Korsika: „Wir sind nicht Herren im eigenen Haus“

Ein Gespräch mit Jean-Guy Talamoni

Thomas Benedikter, Sozialwissenschaftler aus Bozen, hat in seinem Buch „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ unter anderem die Autonomie Korsikas analysiert. 

Thomas Benedikter bei VOICES:

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HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Autonomie und Unabhängigkeitsreferendum in Ozeanien – Bougainville

HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Autonomie und Unabhängigkeitsreferendum in Ozeanien – Neukaledonien

HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 1)

HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 2)

HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ambazonien-Krise. Autonomie für den anglophonen Nordwesten Kameruns?

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 1)

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 2)

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 3)

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 4)

 

Von Thomas Benedikter

Jean-Guy Talamoni (1960) ist ein führender Vertreter des korsischen Nationalismus, tätig vor allem in der Bewegung „Corsica Nazione Indipendente“. In der Korsischen Regionalversammlung (Assemblée de Corse) führte er die Fraktion der Partei Corsica Libera und wurde am 17.12.2015 zum Präsidenten der Versammlung gewählt. Talamoni war auch Mitglied des Stadtrats von Bastia. Seit vielen Jahren für die Erhaltung der korsischen Sprache und Kultur engagiert, hat er 2007 die korsischsprachige Zeitschrift „A Nazione“ (Die Nation) gegründet.

Seit 1. Jänner 2018 gibt es in Korsika nicht mehr zwei Départements, vielmehr ist die Korsische Kollektivität nun die einheitliche regionale Gebietskörperschaft für die ganze Insel. Bei den Regionalwahlen vom Dezember 2017 haben die nationalistischen Parteien eine breite Mehrheit erzielt. Die Korsen unterstützen euer Autonomieprojekt. Gibt es eine Öffnung seitens des Staats oder sind gar Verhandlungen eingeleitet worden?

Talamoni: Es gibt keinerlei Öffnung seitens der Regierung in Paris. 2018 haben die drei früheren Institutionen fusioniert. Die beiden Départements und die frühere „Territoriale Kollektivität“ sind seit Anfang 2018 aufgegangen in der neuen „Kollektivität Korsika“, die die Zuständigkeiten und Ressourcen der Vorgänger übernommen hat. Ausgehend von den Wahlergebnissen vom Dezember 2017 und von unseren zentralen Vorschlägen haben wir die Regierung zu Verhandlungen eingeladen. Bis Mitte 2018 haben wir bezüglich eines neuen Statuts der Kollektivität Gespräche geführt.

Wie hat die Regierung reagiert? Gab es Fortschritte in Richtung mehr Autonomie?

Talamoni: Das war extrem schwierig. Wir hatten ja schon mit Präsident Hollande Ende 2015 über Wege zur Autonomie diskutiert. Damals gab es erste Zugeständnisse, doch noch keine Bereitschaft, die Verfassung zu ändern, um Korsika Autonomie zu gewähren, weil der Präsident nicht über eine Drei-Fünftel-Mehrheit in der Nationalversammlung verfügte. Vor der Korsischen Regionalversammlung sagte Präsident Hollande damals, dass Korsika kein neues Autonomiestatut erhalten könne. Präsident Macron war zunächst Korsika gegenüber ziemlich aufgeschlossen, doch bei seinem ersten Besuch auf Korsika war dies alles passé. Seit Dezember 2017 bis heute hat sich nichts geändert, obwohl wir jetzt nicht nur eine relative, sondern eine absolute Mehrheit der Bevölkerung hinter uns haben. Wir mit unseren Vorschlägen sind jetzt noch stärker legitimiert, und deshalb sollten formelle Verhandlungen mit Paris eingeleitet werden. Wir haben vorgeschlagen, einen neuen Verfassungsartikel bezüglich Korsika einzufügen. Dieser Artikel soll die Grundlage für Korsikas Autonomie sein, ausgehend von seiner geografischen, historischen, kulturellen und sprachlichen Besonderheit. Doch bleibt Paris zurzeit in dieser Sache unzugänglich. Ein neues Autonomiestatut steht somit nicht unmittelbar in Aussicht. Weder bei der Frage des Immobilienmarktes, noch bei den Häftlingen, der Finanzautonomie und der Anerkennung des Korsischen als zweiter Amtssprache sind wir weitergekommen. Der Staat hat sogar einige Zuständigkeiten wieder an sich gezogen. So etwa hat der Präfekt kürzlich einen Rat der Bürgermeister eingerichtet, der in Konkurrenz zum bestehenden Rat der Gemeinden der Kollektivität steht.

Gibt es neben den zentralen Forderungen der korsischen Nationalisten auch einen konkreten Vorschlag für ein Autonomiestatut, etwa im Sinne der Vorschläge der Verfassungsrechtlerin Wanda Mastor?

Talamoni: Ich habe selbst als Präsident der Korsischen Versammlung Frau Mastor damit beauftragt. Was sie für Korsika vorschlägt, orientiert sich am bestehenden Verfassungsartikel 74, der sich auf Neukaledonien bezieht, ein autonomes Territorium, das auf dem Weg zur Unabhängigkeit ist. Wir verlangen einen ähnlichen Artikel, doch Paris lehnt das ab. Dasselbe verlangt auch die eher autonomistische Partei Femu a Corsica des Präsidenten der Exekutive der Kollektivität, Gilles Simeoni. Wir von Corsica libera betrachten die Autonomie als Zwischenetappe, wollen später darüber hinausgehen. Der Report von Wanda Mastor weist den rechtlichen Weg dahin.

Wo spüren die korsischen Parteien heute den größten Bedarf an politischer Eigenständigkeit und somit an eigenen Zuständigkeiten bei der Gesetzgebung und Verwaltung?

Talamoni: Die Kontrolle des korsischen Immobilienmarktes ist für uns sehr dringend, weil die Korsen regelrecht von ihrem Land vertrieben werden, und zwar von auswärtigen Kreisen mit viel Kapital. Fast 40% aller Wohnungen auf Korsika sind Zweitwohnungen. Aufgrund der Marktdynamik steigen die Immobilienpreise, und die Korsen sind in der Regel nicht in der Lage mit diesen Preisen mitzuhalten. Der Kaufpreis schlägt sich unmittelbar auf das Mietenniveau nieder. So können viele Korsen auch keine leistbaren Mietwohnungen mehr finden. Immer mehr Korsen verlassen die Insel, um Arbeit und Wohnung auf dem Festland oder im Ausland zu finden. Wir brauchen die Zuständigkeit, den Immobilienmarkt besser zu kontrollieren, weil die Preissteigerung weit höher liegt als in vergleichbaren Regionen auf dem Festland. Der Zugang zum Erwerb von Immobilieneigentum durch auswärtige Personen und Gesellschaften auf Korsika soll neu geregelt werden. Man sollte mindestens eine fünfjährige Ansässigkeit auf der Insel vorweisen müssen, um überhaupt eine Immobilie erwerben zu können.

Welche anderen Zuständigkeiten fehlen am stärksten? In welchen Politikfeldern sollte die Kollektivität autonome Gesetzgebung ausüben können?

Talamoni: Wir sind bereits für die Verwaltung einer Reihe von öffentlichen Aufgaben zuständig, immer in Anwendung des Prinzips der Subsidiarität. So zum Beispiel steht es nicht so gut um das korsische Schulwesen. Wir wollen ein Schulsystem schaffen, das auf uns zugeschnitten ist. Die Ungleichheiten im korsischen Bildungssystem sind bereits sehr beträchtlich, und werden durch die fehlende Autonomie noch verschärft. Die soziale Ungleichheit nimmt auch aus anderen Gründen laufend zu. Deshalb habe ich einen Vorschlag zur Einführung einer allgemeinen sozialen Grundsicherung in Korsika eingebracht, aber nicht bedingungslos. Im Gesundheitswesen, in der Raumordnung, in der Beschäftigungspolitik, im Umweltschutz: wir könnten in vielen Bereichen gesetzgebend tätig sein.

Korsika kann zurzeit nur Gesetzesvorschläge formulieren, die der Regierung in Paris unterbreitet werden….

Talamoni: Diese Möglichkeit gibt es bereits seit 1981, als Präsident Mitterand der Korsischen Versammlung einige Rechte zugestand. Die meisten dieser Vorschläge sind in den 1980er Jahren Paris vorgelegt worden, aber ohne jeglichen Erfolg. Unsere Gesetzesvorschläge landeten in Paris regelmäßig im Papierkorb. Das funktioniert überhaupt nicht. Deshalb beschreiten wir diesen Weg jetzt nicht mehr.

Darf die Korsische Versammlung Verordnungen zur Anwendung der nationalen Gesetzgebung verabschieden, somit nationale Gesetze auf den Bedarf Korsikas anpassen?

Talamoni: Es geht dabei um Staatsgesetze, die sich auch auf Korsika auswirken. In Frankreich hat gemäß Art. 24 der Verfassung nur das Parlament das Recht, Gesetze zu verabschieden. Als Korsische Versammlung können wir somit aufgrund fehlender Autonomie keine Gesetze verabschieden, sondern müssen nur bei Beschlüssen des Parlaments hinsichtlich unserer Zuständigkeiten konsultiert werden. Dabei gibt es im französischen Staat eine hybride Form der Gesetzgebung, die in Neukaledonien angewandt wird, das ist das „Landesgesetz“, loi du pays genannt. Es ist juridisch strittig, ob es dabei wirklich um Gesetze geht. Aus meiner Sicht sind es keine Gesetze, sondern bloße Beschlüsse dieser Kollektivität sui generis.

In der Vorstellung der Korsen und von vielen Franzosen kann die Versammlung Korsikas gesetzgebend tätig sein, was nicht zutrifft. Doch ist sie keine bloße Regionalversammlung wie jene aller übrigen Regionen Frankreichs. Sieht man sich die Tagesordnung der Korsischen Versammlung an, so sind wir weit mehr mit politischen Fragen als mit Verwaltungsfragen befasst als die übrigen Regionalversammlungen. Wenn es schwerwiegende Probleme gibt, sind wir – der Chef der Exekutive Simeoni und ich – die ersten Ansprechpersonen, noch vor dem Präfekten des Staats, der für die öffentliche Ordnung in Korsika zuständig ist. Doch haben wir als Kollektivität weder für die Polizei noch für die Justiz Zuständigkeiten. In der allgemeinen Wahrnehmung wird unsere Macht überschätzt. Das ist gefährlich, weil man als Politiker dann für etwas verantwortlich gemacht wird, was man gar nicht beeinflussen kann. Nicht wir Korsen sind die Herren im eigenen Haus! Der Mächtigste ist der Präfekt als Vertreter der französischen Regierung.

Wenn die Blockade seitens Paris weitergeht und keine Fortschritte in der Autonomiefrage erzielt werden können, entsteht die Gefahr, dass sich Teile der Gesellschaft und Politik wieder radikalisieren?

Talamoni: Der bewaffnete Kampf für die Selbstbestimmung ist mit 2014 definitiv eingestellt worden. Der Entschluss der FLNC, der korsischen Befreiungsfront, die Gewalt zu beenden, bedeutet eine unwiderrufliche und grundsätzliche Wende in der politischen Strategie. Davon bin ich überzeugt. Wir sind aber nie sicher, dass es nicht neue Probleme oder vereinzelte Gewaltakte geben könnte. Auf der anderen Seite haben der politische Druck der nationalistischen Bewegung und das Votum der Wählerschaft Korsikas bisher nichts bewirkt. Wir sind mit einem sehr klaren Programm von einer absoluten Mehrheit der korsischen Wähler gewählt worden. Für uns ist die Ablehnung unseres Programms, das 56% der Korsen unterstützen, durch den Staat ein Affront. Wir haben mit ihren Spielregeln gespielt, denn das Wahlrecht wird von Paris vorgegeben. Wir haben gewonnen und damit den Auftrag erhalten, unser politisches Projekt umzusetzen.

Was soll man in einer solchen Situation tun? Zum gewaltsamen Widerstand zurückzukehren, ist völlig indiskutabel und ich begrüße sehr den Gewaltverzicht des FLNC von 2014. Im Gegenzug müssen aber entsprechend den neuen Kräfteverhältnissen in unserer politischen Vertretung Verhandlungen mit Paris eingeleitet werden. Wir haben auch viele Bürgermeister in Korsika in unseren Reihen. Ich trete persönlich im Rahmen meiner Partei Corsica liberadafür ein, dass wir bis zu einem Punkt des Bruchs gehen, d.h. dass unsere direkt mit absoluter Mehrheit gewählten Vertreter Formen des zivilen Ungehorsams ausüben, um den Staat zum Dialog und zu Verhandlungen für ein echtes Autonomiestatut zu bewegen. Die Botschaft, die wir aussenden, ist folgende: gleich ob wir heute von 56% oder bei der nächsten Wahl von 95% der Korsen für ein Autonomieprojekt gewählt werden, wir haben das Recht, endlich gehört werden.

Das Korsische ist immer noch nicht als zweite Amtssprache auf Korsika anerkannt. Zudem wird sie im Alltag immer weniger gesprochen. Die Weitergabe der korsischen Sprache innerhalb der Familien nimmt ständig ab. Was könnt ihr dagegen unternehmen?

Talamoni: Ohne Kooffizialität wird die Verwendung der korsischen Sprache weiter abnehmen, sowohl im Alltag als auch in der Politik und in den Medien. Die Korsische Versammlung hat schon 2005 von der Universität Corte einen Bericht zum Zustand der korsischen Sprache ausarbeiten lassen. Das Fazit dieser wissenschaftlichen Erhebung war Folgendes: wenn Korsisch nicht zur Amtssprache erhoben wird, wird die Sprache verschwinden. Das ist eine faktenbasierte Schlussfolgerung der Sozialwissenschaftler. Die Verwendung des Korsischen im Alltag nimmt weiter ab, aber das Bewusstsein, die eigene Sprache zu pflegen, nimmt letzthin wieder zu. Somit gibt es heute ein hohes Sprachbewusstsein, aber eine abnehmende Praxis. Als Jugendlicher in den 1970er Jahren hatte ich viel mehr Gesprächspartner auf Korsisch als heute. Alle sprachen damals Korsisch, doch das hat sich in einer einzigen Generation wesentlich verschlechtert. Seit den 1960er und 1970er Jahren haben die meisten Korsen ihre Sprache nicht mehr so gepflegt, weil man glaubte, dass dies nutzlos wäre und man sich auf das Französische konzentrieren sollte. Heute, wenn wir in der Korsischen Versammlung über Korsisch als Amtssprache abstimmen, sind alle dafür ganz gleich ob links oder rechts. In Korsika selbst gibt es somit einen breiten Konsens zur Anerkennung der korsischen Sprache als zweite Amtssprache.

Eine Amtssprache muss auch in standardisierter Form geschrieben werden. Wie steht es um das Korsische als geschriebener Sprache?

Talamoni: Das geschriebene Korsisch ist erst im 20. Jahrhundert entwickelt worden. Vorher schrieben die Korsen auf Italienisch. Es gab eine Diglossie: Italienisch war als Hochsprache im öffentlichen Leben und in der Literatur gebräuchlich, das Korsische war die Umgangssprache für den Alltag. Es gab noch kaum korsische Schriftsteller, die auf Korsisch schrieben. In der Politik und Verwaltung wurde noch im 19. Jahrhundert das Italienische verwendet. Es gab also eine Diglossie mit zwei Sprachen derselben Sprachfamilie. Dann wurde das Italienische im öffentlichen Leben durch das Französische ersetzt. Heute gibt es wiederum eine Diglossie mit Französisch als der dominierenden Hochsprache und Korsisch als Umgangssprache. Aber keine durchgängige Zweisprachigkeit, sondern verschiedene Sprachen werden in verschiedenen Domänen verwendet.

Heute verlangen die Korsen mehr Einsatz zum Schutz ihrer Sprache. Die französische Sprachenpolitik ist allerdings heute noch so ausgerichtet wie in der Französischen Revolution. In der politischen Klasse, bei den Präfekten als Staatsvertretern gibt es eine einzige Sprache: das Französische. Die Revolutionäre von 1789 wollten alle Formen von Patois, also Dialekte und Minderheitensprachen, möglichst eliminieren. Dass Französisch die einzige Staatssprache Frankreichs zu sein hat, ist ein absolutes Dogma. Deshalb sind all unsere Forderungen nach Korsisch als gleichberechtigte Amtssprache derzeit blockiert.

2007 hat die Korsische Versammlung beschlossen, den zweisprachigen Schulunterricht auszubauen. Gemäß letztverfügbarer Daten sind aber nur 16,2% der Schüler der Mittel- und Oberstufe in solchen Schulen eingeschrieben. Was ist zu tun, um das Korsische an den Schulen zu stärken und das Interesse zu fördern?

Talamoni: Tatsächlich besuchen zu wenige Schüler die zweisprachigen Schulen. Nun könnte man als Erstes das tun, was bei allen anerkannten Minderheitensprachen versucht wird, nämlich im Rahmen eines Autonomiestatuts Korsisch als Pflichtfach für alle einführen. Heute ist Korsisch als Sprachfach fakultativ, es gibt keine Pflicht, während im ganzen Schulsystem in allen Fächern auf Französisch unterrichtet wird. Nun sagen die einen: die Menschen müssen die freie Wahl der Unterrichtssprache haben. Aber was bedeutet das in der Schule? Wäre die Schule freiwillig, würden sicher nicht alle die Schule besuchen. Nein, es gibt die Schulpflicht, und genauso muss auch die Landessprache einer Region auf jeden Fall in der Schule verpflichtend erlernt werden. Korsisch sollte nicht nur Sprachfach sein, sondern auch als Unterrichtssprache verwendet werden. Dafür benötigen wir natürlich viel mehr Korsisch-Lehrpersonen.

Würde eine solche Maßnahme das Gewicht der korsischen Sprache in der Gesellschaft verändern?

Talamoni: Nicht allein, es geht auch um den Sprachgebrauch in der Gesellschaft im Allgemeinen. In vielen Regionen mit Minderheitensprachen hat die Wertschätzung der eigenen Muttersprache abgenommen. Die Jahrhunderte lange kulturelle Kolonisierung hat eine Art Selbstverachtung erzeugt, die nur schwer revidiert werden kann. Wir Korsen sollten unsere Sprache viel mehr schätzen. Der Status als Amtssprache bedeutet, dass die Sprache als wichtiger Teil der Ausbildung und beruflichen Karriere begriffen wird, als Mittel des sozialen Aufstiegs vor allem im öffentlichen Dienst. Es gibt immer noch zahlreiche Zuwanderer sowohl aus Frankreich wie aus dem Ausland, deren Kinder nicht die zweisprachige Schule besuchen, weil sie keinen Nutzen darin sehen. Die Migranten in Katalonien lernen Katalanisch, weil nur das ihnen den sozialen Aufstieg sichern wird. Doch bei uns?

Sie haben als Präsident der Korsischen Versammlung die Legislatur mit einer Rede in korsischer Sprache eröffnet. Das wurde in ganz Frankreich als Skandal hingestellt. Doch inwiefern findet das Korsische in der Politik in Korsika Verwendung? Z.B. in den Gemeinderäten? Wie kann sie in der Politik gefördert werden?

Talamoni: Auch in der korsischen Versammlung verstehen zwar alle Korsisch, aber es dominiert das Französische. Auf der Straße hingegen verstehen bei Weitem nicht alle Korsisch. Auch nicht alle gewählten Vertreter können es sprechen oder gar schreiben. Die Nationalisten sprechen es natürlich, aber auch nicht alle Mitglieder an der Basis. Ich habe meine Rede auf Korsisch gehalten, um das Problem aufzuwerfen, um den Wert der Sprache zu unterstreichen. Ich habe darin unsere demokratisch legitimierten Forderungen dargelegt, darauf kommt es an. Das sollte man in Paris zur Kenntnis nehmen. Was in Paris angekommen ist, war nur der Umstand, dass in einer Regionalversammlung nicht die Sprache der Republik verwendet worden war. Das hat die französische Öffentlichkeit als Sakrileg empfunden. In gewissen Regierungskreisen hat es geheißen, ich würde Gefängnis für diesen Akt verdienen. Auf diesem Stand sind wir noch in Frankreich. Ich bin gewähltes Mitglied einer Institution der Republik, bin aber von Korsen gewählt worden, um korsische Anliegen zu vertreten.

In Polynesien gab es einen ähnlichen Fall, und so zeigt sich auch die Perversion der französischen Sprachenpolitik. Es gab eine Abänderung der französischen Verfassung, um Französisch als einzige Staatssprache festzuschreiben. Doch zielte dies auf die Verteidigung des Französischen gegen die Übermacht ausländischer Sprachen, vor allem des Englischen, nicht auf die Bekämpfung kleiner Regionalsprachen wie dem Korsischen. Aber genau dieser Verfassungsartikel ist dann für die Anfechtung der Verwendung des Tahitianischen in den Institutionen auf Polynesien genutzt worden. Unbegreiflich. Heute gibt es in Paris Oberschul- und Hochschulkurse auf Englisch, was völlig in Widerspruch zur Verfassung steht. Auch an der Börse von Paris ist die Verwendung des Englischen erlaubt, aber kein Korsisch in unserer eigenen Regionalversammlung.

Welche Rolle spielt die korsische Sprache in den Medien?

Talamoni: Die Cullettività corsa unterstützt das öffentliche Fernsehen und Radio in korsischer Sprache mit Finanzbeiträgen. Es gibt auch die Radio Corse Frequenza MoraRCFM von Radio France, die verschiedene Programme auf Korsisch haben. Unsere Mehrheit will dieses Medienangebot auf Korsisch verstärken. Heute muss man das Korsische verstärkt ins Fernsehen und in die modernen Medien bringen. Die Korsen sollen ihre Sprache neu schätzen lernen. Aber nur symbolische Akte genügen nicht. Es braucht auch die entsprechenden Ressourcen.

Bei den Zeitungen, kann man mehr tun zur Förderung der korsischen Sprache?

Talamoni: Da könnte man mehr tun. Ich habe schon in den 2000er Jahren eine Zeitung in korsischer Sprache gegründet. Heute bringt die Tageszeitung Corse Matin nur ab und zu einige Artikel auf Korsisch, das ist sehr wenig. Man müsste eine Tageszeitung auf Korsisch herausbringen, doch wirtschaftlich ist das höchst schwierig. Sogar Zeitungen in französischer Sprache haben Probleme, zu überleben. Früher gab es auf Korsika zwei Zeitungen in französischer Sprache. Heute wäre es ein großes Wagnis, eine korsische Zeitung herauszubringen, das wäre wirtschaftlich kaum tragbar.

Gibt es Formen der grenzüberschreitenden Kooperation zwischen der Kollektivität Korsika und anderen Regionen, auch im Ausland etwa in Italien?

Talamoni: Ja, diese Zusammenarbeit das gibt es schon seit langer Zeit in den Grenzen unserer Zuständigkeiten. Mit dem früheren Präsidenten des Regionalrats von Sardinien, Gianfranco Ganau, habe ich vor 4 Jahren einen permanenten korsisch-sardischen Rat gegründet. Die Präsidenten aller Fraktionen nehmen daran teil. Der neue Präsident steht der Lega nahe, aber unsere strategische Partnerschaft wird auf institutioneller Ebene weiter gepflegt. Wir bearbeiten vor allem kulturelle Fragen, wie z.B. die Zusammenarbeit bei den Hochschulen, was von beiden Regionalversammlungen gutgeheißen worden ist. Wir haben einen gemeinsamen Literaturpreis geschaffen. Es gibt auch wirtschaftliche Zusammenarbeit. Jedenfalls haben wir gute Beziehungen zu Sardinien.

Im Allgemeinen waren die Beziehungen zwischen Korsika und Italien jedoch seit dem 2. Weltkrieg jahrzehntelang belastet. Die Okkupation 1942/43 war sehr brutal und hat tiefe Spuren hinterlassen. Die korsische Kriegsgeneration wollte von Italien nichts mehr wissen. Die junge Generation von heute hat weniger Scheuklappen und hat ist wieder mehr am Austausch mit Italien interessiert.

Somit wäre es auch undenkbar gewesen, dass Italien eine Art Schutzmachtrolle für Korsika als Teil Frankreichs übernimmt und für seine Autonomie eintritt so wie Österreich für Südtirol? Immerhin hat Frankreich sich gleich nach dem Krieg für das Aostatal engagiert.

Talamoni: Es gab irredentistische Kreise unter korsischen Intellektuellen, die in der Zwischenkriegszeit für die „Corsica italiana“ eintraten. Diese Kreise sind durch die Annexionspläne Mussolinis und die Besatzung im 2. Weltkrieg völlig diskreditiert worden. Heute gibt es keine Irredentisten mehr. Für Frankreich dienten diese Kreise dazu, alle Stimmen für die Selbstbestimmung und Autonomie der Korsen auf Dauer zu diskreditieren. Doch eine andere Bewegung der Zwischenkriegszeit forderte nichts anderes als Autonomie für Korsika, nicht die Unabhängigkeit, während kaum jemand für den Anschluss an Italien eintrat. Das offizielle Frankreich hat aber später die gesamte Bewegung der Korsen für mehr Eigenständigkeit über den gleichen Kamm geschoren. Wir haben ein kulturelles Nahverhältnis mit Italien, eine gemeinsame Kultur und Geschichte. Ich bin dafür, dass wir neue Partnerschaften mit Regionen Italiens aufbauen. Doch die politische Unterstützung Italiens für unsere Anliegen zu suchen, das wäre in Korsika nicht vertretbar.

Der französische Staat gibt in Korsika wesentlich mehr aus als etwa in vergleichbaren Regionen Südfrankreichs. Natürlich müssen auch der breitere Umfang an Zuständigkeiten der korsischen Kollektivität berücksichtigt werden. Insgesamt kann man doch von einem finanziellen Privileg sprechen?

Talamoni: Korsika hat in seiner Geschichte seit der Annexion an Frankreich sehr gelitten. Im ganzen 19. Jahrhundert gab es ein Gesetz, das die Exporte aus Korsika nach Frankreich mit Zöllen belegte, während die Importe von Frankreich auf die Insel zollfrei waren. Im 1. Weltkrieg wurden die Korsen in Massen mobilisiert und völlig rücksichtslos rekrutiert, 12.000 sind an der Front gefallen. Korsika ist menschlich ausgeblutet worden. Dann kamen die Zwischenkriegszeit und der 2. Weltkrieg, wo Korsika schwer bombardiert worden ist. Die spätere industrielle Entwicklung der Nachkriegszeit ist an Korsika fast völlig vorübergegangen, unsere Wirtschaft ist vernachlässigt worden, es gab starke Auswanderung und die soziale Situation ist bis heute ziemlich dramatisch. So erscheint ein gewisser finanzieller Mehraufwand des Staats gerechtfertigt.

Aus: „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ von Thomas Benedikter (LIT-Verlag)

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