Kein Interesse am Schicksal der Minderheiten im Vielvölkerstaat Afghanistan: Frauen demonstrieren verzweifelt. Bundestag ringt um einen Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission

U.S. Marines assist with security at an Evacuation Control Checkpoint during an evacuation at Hamid Karzai International Airport, Kabul, Afghanistan, Aug. 20. U.S. service members are assisting the Department of State with a non-combatant evacuation operation (NEO) in Afghanistan. (U.S. Marine Corps photo by Staff Sgt. Victor Mancilla)

Von Jan Diedrichsen

Seit fast sechs Monaten sind die Taliban in Afghanistan an der Macht, und schon verblassen die schrecklichen Bilder: von Menschen, die sich an Flugzeuge klammern, von Bombenanschlägen, gezielten Hinrichtungen von Angehörigen ethnischer Gruppen, von Taliban-Kämpfern, die Frauen verprügeln und sozusagen eine neue Ära einläuten – zurück in eine dunkle Vergangenheit.

 

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Die Öffentlichkeit in Deutschland hat sich fast genauso schnell aus der Region – die zugegebenermaßen in ihrer ethnischen Zusammensetzung, ihren unübersichtlichen Konfliktlinien, historischen Bedingtheiten und geopolitischen Interessenslagen verzweifelnd komplex ist – verabschiedet; beinah so schnell, wie die ausländischen Truppen, die das Land im August 2020 mehr oder weniger fluchtartig verließen. Die Afghanen werden – wenn überhaupt – als tragische Opfer eines grausamen Schicksals betrachtet, gegen das nichts unternommen werden kann. Leider unvermeidlich, nächstes Thema bitte.

Doch nur weil wir nicht mehr zuhören und hinschauen, bedeutet dies natürlich nicht, dass die Menschenrechtsverletzungen, die Angst vor den Taliban, die ethnischen Konfliktlinien, die Verfolgung von Minderheiten und die verzweifelte Lage der Frauen des Landes sich in Luft aufgelöst hätten. Sie prägen das Leben der Bevölkerung weiterhin, tagtäglich.

Düzen Tekkal, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin ist eine der wenigen, die es in Deutschland noch vermag, ein Schlaglicht auf die verheerende Situation in dem gebeutelten Land zu werfen. Eine Situation, die der sog. Westen mit seiner gescheiterten Afghanistanpolitik mit zu verantworten hat. Düzen Tekkal thematisiert das Schicksal der Minderheitenangehörigen und vor allem der Frauen des Landes, die wohl mit am meisten durch die Machtübernahme der Taliban verloren haben.

Bislang hat noch kein Land der Welt die Regierung in Kabul anerkannt. Die neuen Machthaber versuchen sich – um Handelsbeziehungen und politischer Stabilität bemüht – sogar in positiver Pressearbeit und lassen vermelden, in ihrem Land sei es sicher. Dennoch, offener Widerstand wird nicht geduldet. Umso bewundernswerter sind die seit vergangenem Sonntag vermeldeten Demonstrationen von Duzenden Frauen, die ihren Protest öffentlich machen – buchstäblich todesmutig.

Sie gehen auf die Straße, um gegen die Ermordung von Frauen und die für sie allein geltenden Einschränkungen im öffentlichen Leben zu protestieren, die seit der Machtübernahme der Taliban im August zum Alltag gehören. Sie verlangten auch Auskunft über den Verbleib von Alia Aziz, einer weiblichen Gefängniswärterin, die seit mehreren Monaten vermisst wird. Die Demonstranten stießen auf den Widerstand von Taliban-Kämpfern, die sie mit Pfefferspray bedachten und Elektroschocks einsetzten, um die Menge aufzulösen.

Die Taliban wollten vergangene Woche anscheinend die Gemüter beruhigen, indem sie einen Mann verhafteten, der eine Frau, die der Volksgruppe der Hazara angehörte, „aus Versehen“ erschossen hat. Zainab Abdullahi, 25, starb am Freitag im Stadtteil Dasht-e-Barchi in der afghanischen Hauptstadt Kabul, als der Taliban-Kämpfer an einem Kontrollpunkt auf ihr Fahrzeug schoss.

Nach Angaben von Amnesty International töteten die Taliban im August 13 Angehörige der Hazara in der Provinz Daykundi. Zu den Opfern des Massakers gehörten ein junges Mädchen und neun ehemalige Regierungssoldaten, die sich den Taliban ergeben hatten. „Diese kaltblütigen Hinrichtungen sind ein weiterer Beweis dafür, dass die Taliban dieselben schrecklichen Misshandlungen begehen, für die sie während ihrer früheren Herrschaft in Afghanistan berüchtigt waren“, sagte Agnès Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International.

Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet äußerte am Dienstag ihre Besorgnis über die Tötung von Zivilisten und die Missachtung der Rechte von Frauen  und forderte den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. „Ich fordere alle Staaten auf, ihren Einfluss bei den Taliban geltend zu machen, um die Achtung der grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten“, sagte Frau Bachelet auf einer Sondersitzung des Sicherheitsrates.

In Afghanistan herrschen tiefe ethnische Gräben. Uzbeken, Tadschiken und andere Gruppen dominieren im Norden des Landes und stellen sich traditionell gegen die Taliban, deren Führung überwiegend aus Paschtunen besteht. Einige Angehörige der nördlichen ethnischen Gruppen schlossen sich jedoch den Taliban an und spielten eine wichtige Rolle bei der Eroberung des Landes im vergangenen Jahr.

Derweil wird im Deutschen Bundestag über den von der Ampel-Regierung im Koalitionsvertrag angekündigten Untersuchungsausschuss über die teils chaotische Evakuierungsmission in Afghanistan diskutiert, mit der die Bundesregierung im August 5300 deutsche Staatsangehörige und afghanische Ortskräfte von der Bundeswehr ausfliegen ließ. Eine Klärung oder ernsthafte Debatte über eine mögliche Mitverantwortung für die aktuelle tragische Situation in Afghanistan, wird kaum zu erwarten sein.

Neben dem Untersuchungsausschuss will die Ampel-Koalition auch eine Enquete-Kommission einsetzen, die den gesamten Afghanistan-Einsatz evaluieren soll. Die Erkenntnisse aus der Kommission und dem Untersuchungsausschuss sollen dann „in die Gestaltung künftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen“ … da darf man dann gespannt sein.

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