02-01-2022
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Autonomie oder Reservat? Ethnische Reservate versus Territorialautonomie
Thomas Benedikter, Sozialwissenschaftler aus Bozen, hat in seinem Buch „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ die Autonomiebestimmungen und historischen Entwicklungen in Neukaledonien analysiert.
In Amerika sind das Konzept und die Praxis der Autonomie eng verbunden mit der Geschichte der Unterjochung und erzwungenen Assimilierung der Indianervölker. Während die Kolonialmächte in Lateinamerika die Strategie der Vermischung der europäischen Kulturen und der indigenen Kulturen in einem alles andere als friedlichen Prozess der Mestizisierung wählten, wurden die autochthonen Völker Nordamerikas zum Großteil ausgerottet oder in Reservate in unwirtlichen Gebieten abgedrängt. Erst in der jüngsten Geschichte beschritt man in Kanada (Nunavut), Nicaragua (Karibikregion) und Panama (Comarca Guna Yala) mit echter Territorialautonomie einen angemesseneren Weg zur Achtung der Grundrechte der indigenen Völker. Die Schaffung von Reservaten für die Indianervölker Amerikas reicht in die blutigen Unterwerfungs- und Ausrottungsfeldzüge der Kolonialmächte zurück, die in Nord- und Südamerika bis ins 19. Jahrhundert andauerten. In langwierigen Prozessen der Demarkierung konnten sich indigene Völker zumindest einige letzte Rückzugsgebiete sichern, in welchen sie vor Unterdrückung und Diskriminierung sicher waren. Bei der staatsrechtlichen Einordnung und dem inneren Aufbau unterscheiden sich allerdings Reservate indigener Völker von Territorialautonomie. (Wolfgang Mayr)
Thomas Benedikter bei VOICES:
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 1)
HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Ein Staat bietet Autonomie – Marokko und die Westsahara (Teil 2)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 1)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 2)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 3)
Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 4)
Von Thomas Benedikter
Autonomie oder Reservat? Ethnische Reservate versus Territorialautonomie
88 Abgeordnete in Vertretung von 110 Gemeinschaften der Navajo-Nation treten regelmäßig im Rundpavillon des Ratsgebäudes in Window Rock zusammen, der Hauptstadt des Navajo-Reservats in Arizona. Zum Teil in der Sprache der Navajos debattieren die Abgeordneten aktuelle Themen und neue Regelungen für ihr Volk. 1991 ist das Reservats-Statut neu gefasst worden und sieht nun eine klare Gewaltenteilung zwischen Regierung, Gesetzgebungsorgan und Rechtsprechung vor. Die Navajo-Reservation hat einen beträchtlichen Umfang an politischen Zuständigkeiten, wie z.B. im Gesundheitswesen, im Bildungssystem, in der Sozialfürsorge, bis hin zur Polizei und lokalen Gerichtsbarkeit. Zwischen den Plenarsitzungen des Navajo Nation Council (Nationalrat) bearbeiten 12 ständige Kommissionen diese Sachbereiche. Die Navajo-Reservation ist Arizonas einzige Reservation, die ursprünglich durch Vertrag begründet wurde. Sie ist sogar älter als der Bundesstaat Arizona selbst, der erst 1912 als 48. Staat aufgenommen wurde. Mit 67.339 km2 ist die Navajo-Reservation auch die größte der USA, fast so groß wie Bayern, aber mit nur 270.000 Einwohnern dünn besiedelt. In dieser Ausdehnung besteht das Reservat seit 1923, als immer mehr Ölfirmen Navajo-Land für die Ölexploration leasen wollten. Das Reservat ist zum Vorzeigemodell indianischer Selbstverwaltung geworden.
Eine Geschichte des Genozids
Die Eroberung Nordamerikas durch europäische Staaten mit ihren Soldaten und Siedlern war eine Katastrophe für die indigenen Völker oder „First Peoples“, so die wissenschaftliche Bezeichnung der nordamerikanischen Ureinwohner. Als die Europäer den Kontinent betraten, gab es 500 Nationen mit eigener Sprache und Kultur. In den folgenden fünf Jahrhunderten europäischer Kolonisation ist das indianische Nordamerika bis auf einige Reste zerstört worden. Die First Nations hatten eine ausgeklügelte Gebärdensprache entwickelt, um sich untereinander zu verständigen. 1492 war Nordamerika Schätzungen zufolge noch von mindestens fünf Millionen Menschen besiedelt gewesen.
Die nicht-indianische Bevölkerung der USA wuchs von 1800 bis 1900 von 5 auf 75 Millionen. Die Zahl der Ureinwohner sank in jenem Jahrhundert von 600.000 auf 237.000.
Die nach Westen expandierenden USA gingen radikaler vor als vor ihnen die Kolonialmächte Frankreich und England. Es galt die Doktrin der „Entdeckung“. Wer einen Stamm als erster „entdeckte“, erwarb das Vorrecht, Verträge mit ihm abzuschließen. Die meisten Verträge zwischen den USA und den First Nations wurden später von den USA gebrochen oder aufgekündigt. Andrew Jackson, US-Präsident von 1829-1837 – ein eingefleischter Rassist und Vorbild von Donald Trump – peitschte ein Gesetz zur Beseitigung der Indianer durch den Kongress. „Wenn der Wilde Widerstand leistet, verlangt die Zivilisation, mit den 10 Geboten in der einen und mit dem Schwert in der anderen Hand seine unmittelbare Auslöschung,“ war seine Devise.
Die weißen Siedler massakrierten nicht nur mit staatlicher Genehmigung die indianischen Völker, sie brachten auch ansteckende Krankheiten mit, was die Ureinwohner noch stärker dezimierte als die Gewalt. Vom US-General Philip Sheridan stammt der Spruch: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“ Die Ausrottung der Bisonherden raubte den Ureinwohnern schließlich auch die wichtigste Lebensgrundlage. Es war ein Ethnozid, schreibt Aram Mattioli (Mattioli, Verlorene Welten, 2017). Das Ziel war, ihre alte Lebensweise möglichst vollständig auszuradieren, die Macht der traditionellen Chefs für immer zu brechen, und die Ureinwohner völlig in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Zudem setzte Washington auf die nachhaltige Amerikanisierung der Indianergemeinschaften. Wer sich nicht den Umerziehungsprogrammen unterwarf, erhielt keine Essensrationen mehr. Den Familien der Ureinwohner wurden die Kinder weggenommen und in ferne Internate gesteckt. Einige dieser Schulen waren bis Mitte des 20. Jahrhunderts in Betrieb. „Den Pädagogen ging es darum, die kulturelle Identität indianischer Kinder zu zerschlagen“, schreibt Mattioli, „Die Internatsschulen waren Teil eines kolonialen Projekts, das, als die Schlachten um das Land entschieden waren, sich nun der Köpfe, Herzen und Körper der Indianer annahm.“
Reservate – Eigenes Territorium „auf Widerruf“
Die meisten indianischen Völker Nordamerikas leben heute in Reservaten mit besonderer Rechtsstellung. Sie umfassen kaum 2% der Landfläche der USA (rund 225.000 km2), doch die meisten sind ziemlich klein. Andererseits übertreffen immerhin neun der rund 300 Reservate an Fläche den kleinsten US-Bundesstaat Delaware (5.375 km2). Bei weitem nicht alle der 566 anerkannten First Nations der USA haben ein eigenes Reservat. Eine knappe Mehrheit der rund zwei Millionen Indianer der USA (0,6% der Gesamtbevölkerung) leben außerhalb der Reservate, vor allem in den Städten.
Die Idee der Indianerreservate reicht in den USA bis in die Zeit der Segregationspolitik vor der 1776 erklärten Unabhängigkeit zurück. Im Zuge der Westexpansion der USA wurden die Ureinwohner in abgelegene und unwirtliche Gebiete abgedrängt. Die lange Umsiedlungsaktion der Indianer begann in den 1820ern und dauerte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Immer öfter schritt die US-Regierung zur Errichtung von Reservaten, wo die überlebenden Ureinwohner auf kleiner Fläche unter Aufsicht der US-Armee und einer neuen indianischen Verwaltung leben sollten. Damit verloren die First Nations endgültig ihren Status als nominell souveräne Nationen mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Die meisten Reservate entstanden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage von Verträgen mit der US-Regierung. Die Indianervölker erhielten das Recht auf ein „Territorium auf Widerruf“, und Washington widerrief ziemlich oft die vorher vertraglich zugesicherten Landrechte.
Nach 370 missachteten oder gebrochenen Verträgen stoppte der US-Kongress 1871 den Abschluss neuer Verträge. Die Reservate wurden nun von Washington einseitig festgelegt. Nur durch Vererbung und Landkauf konnten die Indianer ihr Land erweitern. Sie waren von ebenbürtigen Vertragspartnern zu Mündeln in völliger wirtschaftlicher Abhängigkeit herabgesunken unter der rechtlichen Vormundschaft des zentralen Bureau of Indian Affairs BIA. Es galt die Devise „Kill the Indian in him and save the man”. Die Ureinwohner waren jeglicher kultureller, wirtschaftlicher und politischer Autonomie beraubt und der Assimilation preisgegeben.
Bitteres 20. Jahrhundert
Um die Jahrhundertwende startete die US-Regierung einen weiteren Anlauf zur Assimilierung der First Nations. Ihr bisher kollektives Landeigentum sollte in frei übertragbares Privateigentum umgewandelt werden. Die Aushöhlung des kommunitären Landbesitzes traf die Lebensgrundlage der Indianer ins Mark. Mit dem „General Allotment Act“ (Allg. Zuteilungs- und Parzellisierungsgesetz) von 1887 wurde die Privatisierung zur Leitlinie der US-Politik. Als individuelle Farmer sollten die Indianer endgültig in der weißen US-Gesellschaft aufgehen. In den Jahren bis 1934 verloren die Ureinwohner nochmals 60% ihrer ohnehin schon geschrumpften Territorien, die ihnen 1887 noch gehört hatten. Am Ende erreichte dieses US-Gesetz seinen Zweck doch nicht. Ein Teil der Indianer blieb auf ihrem Land, doch ihre Lebenslage verschlechterte sich zusehends: extreme Armut, hohe Analphabetenrate und Kindersterblichkeit, schlechte Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit und prekäre Wohnbedingungen prägten den Alltag der Indianergemeinschaften.
Mit dem Indian Reorganization Act von 1934 wurde das Privatisierungsprogramm des Indianerlands gestoppt. Die Indianer erhielten das Recht zurück, eigene Lokalverwaltungen zu bilden und ihre Vertreter zu wählen. Eine eigene Polizei und lokale Rechtsprechung wurden eingeführt, doch dadurch entstand ein konfliktbehaftetes Parallelsystem zwischen den traditionellen indianischen Institutionen und dem allgemeinen US-Rechtssystem. Mit dem „Indian Citizenship Act“ von 1924 erhielten zwar viele Ureinwohner die US-Staatsbürgerschaft, doch als nicht steuerpflichtige Personen waren sie bis 1956 bei Wahlen zum US-Kongress nicht wahlberechtigt. Indianer konnten somit bis 1956 nicht aktiv und gleichberechtigt an der US-Politik auf Bundesebene teilnehmen.
In den 1950er Jahren nach der Roosevelt-Ära kam es zu einer neuen Kehrtwende in der Indianerpolitik der USA. Der „Termination Act“ von 1953 nahm die Endlösung der Indianerfrage ins Visier. Die Ureinwohner sollten gleichberechtigt mit allen anderen US-Bürgern leben, die Reservate aufgelöst und der Sonderstatus der Indianer im US-Rechtssystem beendet werden. Damit wäre die US-Regierung jeder Verantwortung für den Schutz der Ureinwohner entledigt und die „Termination“ als endgültige Assimilation der Indianer vollendet worden. Hunderte kleinerer Stämme verloren dadurch ihre letzte Autonomie. Die langfristige Auswirkung dieses Programms war, dass heute die knappe Mehrheit der rund zwei Millionen US-Indianer außerhalb der Reservate vor allem in den Städten lebt.
Ende der 1960er Jahre lehnte sich eine neue, radikalere Führungsschicht der Indianer erfolgreich gegen die Assimilierungspolitik auf. Der neue Slogan war „Selbstbestimmung“, was den Präsidenten Nixon 1975 zum „Indian Self-Determination and Education Assistance Act“ veranlasste. Die US-Regierung hatte erkannt, dass die völlige Assimilierung der Ureinwohner nicht erreicht werden konnte. Sie beschloss, die meisten sozialen und wirtschaftlichen Hilfsprogramme den anerkannten Stämmen selbst zu übertragen und die paternalistische zentrale Struktur des BIA abzubauen. Die einzelnen Bundesministerien behielten nur die Verantwortung, die von gewählten Stammesführern eigenständig geführten Programme zu finanzieren. Diese neue Generation amerikanischer Indianer war weit besser auf die Aufgaben der Selbstverwaltung vorbereitet als ihre Eltern und Großeltern und wussten, wie man Betriebe führte, Institutionen aufbaute und weiße Fachleute in Dienst nehmen konnte. Somit zog sich das BIA nach und nach auf die Rolle der Aufsichtsbehörde der autonomen Indianer-Selbstverwaltung zurück. Auch nach diesem Gesetz waren Konflikte wegen Kompetenzüberschreitungen zwischen dem BIA und Indianerreservaten eher die Regel als die Ausnahme. Das BIA als solches blieb von diesem Wandel auch nicht unberührt: 90% seiner Angestellten aller Ränge sind heute Ureinwohner.
Bürgerrechte bis 1965 nur auf dem Papier
Obwohl schon 1817 die Cherokee als erstes Indianervolk auf Bundesebene die Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde, dauerte es bis 1924, bis alle Indianer mit dem „Indian Citizenship Act“ das Bürgerrecht der USA erhielten. Damit konnten die Indianer Mitglieder ihres Stamms bleiben und in einem anerkannten Reservat leben, und dennoch alle Bürgerrechte einschließlich des Wahlrechts auf Bundesebene ausüben. Dies führte allerdings nicht automatisch zur Ausübung des Wahlrechts. Verschiedene Bundesstaaten legten den Indianern weiterhin mit fadenscheinigen Vorwänden Prügel in den Weg. Erst 1965 setzte der „Voting Rights Act“ den von Bundesstaaten willkürlich eingerichteten Hürden ein Ende. Alle grundlegenden Bürgerrechte erhielten die Indianer erst mit dem „Indian Civil Rights Act“ von 1968 (auch „Indian Bill of Rights” genannt). In den USA muss man sich allerdings als Wähler mit eigenem Akt registrieren, was viele Native Americans nicht schaffen. Sie leben weitab von den Behörden und können die für die Wähleridentifizierung von den Wahlbehörden geforderten Daten oft nicht beibringen. So liegt die Wahlbeteiligung der Indianer auf Bundesebene immer noch niedrig. Seit 1965 sind 74 Rechtsverfahren gegen die Verweigerung des Wahlrechts in Einzelfällen angestrengt worden.
Sind Reservate autonome Regionen?
Unter rechtlichem Aspekt gibt es verschiedene Arten von Reservaten. Die wichtigste ist jene der Vertragsreservation (Treaty Reservation) auf öffentlichem Grund und Boden, die von der US-Regierung einem anerkannten Volk oder Stamm übertragen wird. Die zweitwichtigste Form ist ein Reservat, das sich im privatrechtlichen Eigentum der Ureinwohner befindet. Welche rechtliche Souveränität haben nun die Indianer innerhalb der Reservate?
Obwohl alle 304 Reservate zu einem der 50 US-Bundesstaaten gehören, unterstehen sie nicht der politischen Ordnung, der Verwaltung und dem Steuersystem des jeweiligen Staats. Auch bezüglich der Gerichtsbarkeit haben Reservate ein eigenes System. Bis heute konnten sie auf diese Weise einige Elemente ihrer früheren Souveränität bewahren. Sie sind nicht ins politische System der Distrikte (county) integriert und wählen auch keine Abgeordneten weder ins Parlament des jeweiligen Gliedstaats noch ins Bundesparlament, den US-Kongress in Washington. Die Mitglieder der Reservate wählen den „Stammesrat“ und einen Gouverneur oder Präsidenten. Die Verwaltungsbehörden des Reservats erlassen Regelungen, die für alle im Reservat Ansässigen gelten, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einem Indianervolk. Doch ist es recht kompliziert, als Nicht-Indianer überhaupt die Genehmigung zur Niederlassung innerhalb eines Reservats zu erhalten. Die Indianer haben als US-Staatsbürger zwar das Wahlrecht, doch als Ansässige in einem Reservat nehmen sie an keiner politischen Wahl des jeweiligen Bundesstaats teil, sondern nur für US-Bundesorgane.
Die Indianerreservate sind zwar oft keine kompakten, geographisch zusammenhängenden und ethnisch homogenen Gebietseinheiten, bilden jedoch getrennte Gebiete hinsichtlich des Steuerrechts, der lokalen Gerichtsbarkeit, der Verwaltung und des politischen Systems (Wahlrecht, politische Vertretungsorgane). Grundsätzlich sind die Bewohner eines Reservats von den Steuern des Bundesstaats und der Bundesregierung befreit, doch nicht vollständig. Für jene US-Bundesstaaten mit einem größeren Anteil an Reservatsflächen bedeutet diese Steuerfreiheit der Reservate einen beträchtlichen Verlust an Grundsteuereinnahmen. Die Mitglieder einer Indianernation sind auch von Bundessteuern befreit, während weiße Landbesitzer innerhalb eines Reservats US-Steuern zahlen müssen. Andererseits dürfen Reservate in bestimmten Grenzen eigene Steuern einheben.
Auch in der Gerichtsbarkeit gibt es noch einige Relikte der früheren Souveränität. Seit dem „Termination Law“ von 1953 sind die Reservatsgerichte weitgehend durch staatliche Gerichte ersetzt worden. Doch in einigen anderen Staaten wie Arizona, Nevada, Colorado, New Mexico, Utah, Wyoming und Dakota haben Indianer, aufgrund des besonderen Rechtsverhältnisses zwischen den Reservaten und der Bundesregierung, einen eigenen Status. Reservate haben eigene Stammesgerichte mit Zuständigkeit für geringfügige Kriminalität mit Berufungsmöglichkeit bei einem Bundesgericht. Doch haben US-Gerichte entschieden, dass Indianerstämme über US-Bürger, die innerhalb des Reservats leben und Land gekauft haben, keine Gerichtsbarkeit ausüben dürfen.
Während der letzten 30 Jahre haben die Indianernationen nicht nur versucht, ihren Landbesitz zu konsolidieren, sondern auch die verbliebenen Elemente ihrer politischen Souveränität und die traditionellen Rechte zur Nutzung der Ressourcen ihrer Gebiete zu erhalten. Solche Rechte waren oft in Form von Verträgen verankert worden, wie z.B. bei der Nutzung von Wasserläufen. Doch geraten Indianer nach wie vor in Konflikt mit weißen Farmern und mit anderen Interessen unter dem starken Druck der jeweiligen Bundesstaaten. Ein wichtiges Ziel der Politik der Indianernationen war neben der Erhaltung und Wiederbelebung ihres kulturellen Erbes auch die Verhinderung der weiteren Aufsplitterung ihres Landes aufgrund der Erbteilung.
Aus diesen Betrachtungen lässt sich ableiten, dass die US-Reservate – und dies gilt größtenteils auch für Kanada – keine Territorialautonomien im Sinne der hier angewandten Bestimmungskriterien darstellen. Die wesentlichen Unterschiede liegen in der politischen Vertretung auf regionaler und staatlicher Ebene und in der speziellen „ethnischen Reservatsbürgerschaft“, die an die Mitgliedschaft in einem anerkannten Stamm geknüpft ist. In den USA gibt es zudem keine verfassungsrechtliche Verankerung der Territorialautonomie der Indianerreservate. Einige Teile ihres Territoriums, die bestimmten Rechtskategorien angehören, können auch im privaten Grundverkehr veräußert werden. Somit teilen Amerikas Reservate zwar einige Grundmerkmale von klassischen Territorialautonomien, doch im Vergleich mit den neuen Territorialautonomien indigener Völker in Kanada (Nunavut, Yukon), in Nicaragua (Karibikregionen), in Europa (Grönland) sind einige wesentliche Aspekte anders geregelt. Enger verwandt ist das System der US-Reservationen mit den Territorialautonomien Indiens und dem bevorzugten Status der „scheduled tribes“ (anerkannte Stammesgemeinschaften) innerhalb des jeweiligen autonomen Distrikts.
Die Reservate der USA und Kanadas gründen auf dem Konzept der „ethnischen Autonomie“, das einer indigenen Ethnie eines Gebiets exklusive Selbstverwaltung zuerkennt. Dies geschieht durchaus mit gutem Grund und nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Dadurch wird die demokratische Mitbestimmung und politische Vertretung den Angehörigen der zu schützenden Titular-Ethnie vorbehalten. Nur Stammesangehörige können diese politischen Rechte in Anspruch nehmen, während nicht indigene US-Bürger oder Kanadier zwar mit einigem Aufwand in ein Reservat ziehen können, jedoch keine politischen Rechte erhalten. Diese Regelung ist eine Schutzvorkehrung, die auf dem Hintergrund der Geschichte der Indianer Nordamerikas durchaus berechtigt ist. Die Ureinwohner und nur sie sollen sich in den letzten in ihrer Verantwortung verbliebenen Territorien im Rahmen ihrer Zuständigkeiten selbst regieren können. Keine Nicht-Indianer sollen dabei mitreden dürfen. Ihrerseits kümmern sich die Reservatsbürger nicht oder kaum um die Geschicke der USA. Auch der Zuzug von Nicht-Indianern wird streng kontrolliert und ist nur sehr begrenzt möglich.
In modernen Territorialautonomien ist das nicht so. Jeder andere Staatsbürger und innerhalb der EU jede andere EU-Bürgerin kann aufgrund der Niederlassungsfreiheit in die jeweilige autonome Region ziehen. Auch Drittstaatsangehörige können sich als legale Migranten überall in der EU niederlassen, gleich ob autonom oder nicht. Staatsbürger und EU-Bürgerinnen können, allenfalls nach einer kurzen Übergangsphase, zumindest auf kommunaler Ebene überall ihre Wahl- und Vertretungsrechte ausüben.
Grundsätzlich sind moderne Territorialautonomien offen: Immigration und Emigration kann nur mit sozialen und wirtschaftlichen Anreizen und Maßnahmen gefördert oder begrenzt werden. Die Regelung des Staatsbürgerschaftsrechts liegt in den Händen des Staats. Nur die autonomen Åland Inseln konnten bisher eine eigene „Regionsbürgerschaft“ einführen. Die fehlende Kontrolle über die Migration kann einer ethnischen Minderheit in einer autonomen Region auch zum Nachteil gereichen. Der Staat kann, ungeachtet des Einspruchs der lokalen Politik, Zuwanderung in die autonome Region gezielt und massiv fördern, um eine Minderheit auf ihrem angestammten Gebiet zu majorisieren. Die Papua-Völker in West-Papua (Indonesien) und die indigenen Völker der Chittagong-Berggebiete (Bangladesch), die Sahraui in der Westsahara, die Uiguren und Mongolen in der Volksrepublik China sind trotz formaler Autonomie auf diese Weise zur Minderheit im eigenen Land geworden. Ethnische Autonomie ist somit legitim, um indigene Völker auf ihrem Territorium auf Dauer wirkungsvoll zu schützen. Die Bürger einer modernen Territorialautonomie unterliegen dagegen keinem ethnischen „Clubzwang“, sind ein inklusives Gemeinwesen. Sie bilden eine regionale Gemeinschaft, deren ethnische Zusammensetzung sich auch ändern kann, doch grundsätzlich für Zuwanderung aus dem Rest des Staatsgebiets und aus dem Ausland offen steht. Reservate für Ureinwohner sind der Titularethnie vorbehaltene Gebiete, die zu ihrem Schutz eine exklusive, an die ethnische Zugehörigkeit ihrer Wähler und gewählten Vertreterinnen geknüpfte politische Macht ausüben.
Aus „100 Jahre moderne Territorialautonomie“ von Thomas Benedikter (LIT-Verlag Berlin)
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