HINTERGRUND von Thomas Benedikter: Autonomie und Unabhängigkeitsreferendum in Ozeanien – Neukaledonien

Der französische Präsident Macron kann vorerst aufatmen. Eine überwältigende Mehrheit sprach sich am vergangenen Sonntag gegen eine Unabhängigkeit Neukaledoniens von Frankreich aus. Weniger als die Hälfte der NeukaledonierInnen beteiligten sich am Referendum. Die Unabhängigkeitsbewegung appellierte im Vorfeld, das Referendum wegen der grassierenden Corona-Pandemie aufzuschieben. AktivistInnen werfen dem französischen Staat vor, an der Kolonialisierungspolitik festzuhalten. Viele Ureinwohner sind marginalisiert. Der Großteil der Gefängnisinsassen ist indigen, die meisten jünger als 25 Jahre. Zwanzig Prozent sind arbeitslos, die Gehälter der Erwerbstätigen liegen deutlich unter dem Insel-Durchschnitt, Analphabetismus, Schulabbruch und Alkoholismus belasten die indigenen Gemeinden. In der öffentlichen Verwaltung und leitenden Funktionen dominieren die ZuwandererInnen aus Frankreich.

Thomas Benedikter, Sozialwissenschaftler aus Bozen, hat in seinem Buch „100 Jahre Territorialautonomie – Autonomie weltweit“ die Autonomiebestimmungen und historischen Entwicklungen in Neukaledonien analysiert.

Als VOICES-Experte erläutert er die Hintergründe:


Thomas Benedikter bei VOICES:

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Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 2)

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 3)

Podcast – Thomas Benedikter – Autonomie Ist Machbar (Teil 4)


Von Thomas Benedikter

Am 4. November 2018 waren die 174.000 Wahlberechtigten der großen Pazifikinsel Neukaledonien erstmals aufgerufen, an der Urne zu entscheiden, ob die Inselgruppe weiterhin unter der Territorialhoheit der Kolonialmacht Frankreich bleiben oder ein unabhängiger Staat werden solle. 56,4 % der Abstimmenden stimmten für einen Verbleib Neukaledoniens als autonome Region unter der Territorialhoheit des französischen Staates. Wahlberechtigt waren nicht alle legal ansässigen französischen Staatsbürger, sondern nur jene Staatsbürger, die vor 1994 auf Neukaledonien gelebt und mindestens 20 Jahre Ansässigkeit in dieser autonomen Region nachweisen konnten.

Weil mehr als ein Drittel der Regionalversammlung ein weiteres Referendum verlangte, wurde am 4. Oktober 2020 ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten. Bei einer Wahlbeteiligung von 85% stimmten diesmal 53,3% der Neukaledonier für den Verbleib bei Frankreich. Dennoch ist das Thema Unabhängigkeit nicht endgültig vom Tisch, denn Neukaledonien bleibt eine Region, die von der UNO seit 1986 als „abhängiges nicht dekolonisiertes Gebiet“ geführt wird. Auch in Französisch-Polynesien, der zweiten autonomen Überseeregion Frankreichs, wollen politische Kräfte ein solches Referendum abhalten.

Frankreich hat diese Insel 1853 besetzt und ihre Ureinwohner, die melanesischen Kanaken, unterworfen und kolonisiert. Die Kolonialmacht förderte die Einwanderung von Franzosen, Asiaten und Polynesier anderer Kolonialgebiete, sodass die Kanaken heute nur mehr 39% der Bevölkerung bilden. 8% sind Polynesier aus dem ebenfalls französischen Wallis und Futuna. Neukaledonien hat somit eine multiethnische Gesellschaft, doch fast 60% der Bewohner sprechen keine autochthone Sprache mehr, sondern nur mehr Französisch. Der Widerstand gegen die französische Herrschaft organisierte sich erst in den 1970er Jahren. 1984 wurde die Nationale Befreiungsfront der Kanaken FLNKS gegründet, die sich bis heute für die Selbstbestimmung der Inselbevölkerung und ein freies „Kanaky-Neukaledonien“ einsetzt.

Neukaledonien hat seit dem Friedensabkommen von Nouméa von 1998 echte Territorialautonomie mit einer direkt gewählten Regionalversammlung und einer von der Versammlung gewählten Regionalregierung. Bis 2003 war Neukaledonien ein sog. Überseeterritorium, seit 2003 eine „Kollektivität sui generis“ (Region mit Sonderstatut), die zwei Vertreter in die Nationalversammlung in Paris entsendet. In diesem Rahmen kann die Regionalversammlung in den meisten Politikbereichen selbst Gesetze verabschieden und eine eigene Regierung wählen, die wie in Nordirlandgemäß Konkordanzprinzip von allen größeren Parteien getragen wird. Nicht zu den autonomen Zuständigkeiten gehören die Verteidigung, die Justiz, die Geld- und Kreditpolitik, die Polizei, das Strafrecht und die Migrationspolitik. Noch nicht übertragen worden sind das Kommunikationswesen, die Hochschulausbildung und einige öffentliche Körperschaften.

Die politische Landschaft Neukaledoniens ist zweigeteilt zwischen Gegnern (Loyalisten) und Befürwortern der Unabhängigkeit. Die Ureinwohner, die sozial und wirtschaftlich meist schlechter gestellten Kanaken und Polynesier, unterstützen eher die Unabhängigkeit; die Caldoches, wie sich die Nachfahren der französischen Einwanderer nennen, befürworten den Verbleib bei Frankreich. Auf Neukaledonien sind es primär die Linkskräfte, die für die Loslösung von Frankreich eintreten, während die Caldoches in der Regel zu den wirtschaftlich Privilegierten gehören. Die Loyalisten sind nicht etwa homogen: es gibt dezidiert nationalistische Kräfte, die sogar jeden Ausbau der Autonomie ablehnen. Andere Kräfte begrüßen die gemeinsame, neukaledonische Identität und befürworten mehr Autonomie ohne Sezession. Neukaledonien sei „eine kleine Nation“ im Rahmen Frankreichs ähnlich wie Schottland im Vereinigten Königreich und Québec in Kanada, wird argumentiert. Das Nein zur Sezession wird mit der hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Insel von Frankreich, mit der Sicherheit und der hohen Lebensqualität dank der Unterstützung aus Frankreich begründet.

Tatsächlich stammen gut 30% des BIP Neukaledoniens aus Finanzzuweisungen des französischen Staats, doch ein guter Teil dieser Zuweisungen kehrt in verschiedener Form wieder nach Frankreich zurück, allein durch den hohen Import von Lebensmitteln. Die Unabhängigkeitsbefürworter verweisen auf die großen Nickelvorkommen und auf den Tourismus, der die wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleisten könne. Heute liegt das BIP pro Kopf Neukaledoniens deutlich über jenem der ozeanischen Nachbarstaaten wie Vanuatu oder den Fidschi-Inseln.

Eine multikulturelle Nation Neukaledonien hat sich aber auch die FLNKS auf die Fahnen geschrieben, allerdings als staatlich eigenständiges Gemeinwesen. Der kanakische Bevölkerungsteil hat aufgrund der Einwanderung aus Frankreich seit 1963 ständig abgenommen. Der Sieg der Unabhängigkeitsgegner war zwar erwartet worden, doch immerhin stimmten 2020 46,7% der Neukaledonier für die Loslösung von Frankreich, angesichts der hohen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Insel mehr als erwartet. Die Befürworter sehen die kanakische Identität nur in einem unabhängigen Staat gewahrt. Die Möglichkeit, frei und gemeinsam über die soziale, wirtschaftliche, außenpolitische Entwicklung Neukaledoniens bestimmen zu können, gebe es nur mit Unabhängigkeit, wobei eine spezielle Partnerschaft mit der früheren Kolonialmacht außer Frage stünde. Nicht weniger als 83% der Unabhängigkeitsbefürworter haben ein gutes Bild von Frankreich und wollen die engen Beziehungen auch im Fall einer Staatsgründung weiterführen.

Von 1984 bis 1988 hatte sich auf Neukaledonien ein bewaffneter Konflikt abgespielt, der erst mit dem Vertrag von Matignon und nach einer zehnjährigen Übergangsperiode mit dem Abkommen von Nouméa 1998 beigelegt werden konnte. Paris übertrug auf dieser Grundlage zahlreiche Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten an die autonome Region und verpflichtete sich zur Abhaltung von bis zu drei Unabhängigkeitsreferenden.

Ein neues Aufflackern der politischen Gewalt bei endgültiger Ablehnung der Unabhängigkeit ist nicht zu befürchten, denn alle Parteien haben vereinbart, auch in Zukunft eine institutionelle Debatte über die gemeinsame Zukunft der Insel führen zu wollen. Das Abkommen von Nouméa von 1998 hält fest, dass die Autonomie der Insel irreversibel ist. Die stärkste politische Kraft, Caledonie Ensemble, hat für den Fall des Verbleibs der Insel bei Frankreich angekündigt, neue Verhandlungen mit Paris aufnehmen zu wollen, um ein besonderes und permanentes Autonomiestatut zu verankern, einschließlich des grundsätzlichen Rechts auf Selbstbestimmung, auf dessen Ausübung jedoch mittelfristig verzichtet werden soll. Territorialautonomie sichert Neukaledonien sowohl den Schutz und die wirtschaftlichen Vorteile der Zugehörigkeit zu einem einflussreichen Industrieland als auch die Nabelschnur zur „Grande Nation“, die vor allem für die Nachfahren der französischen Zuwanderer wichtig ist. Diese Ausrichtung hat Neukaledonien gemeinsam mit den allermeisten französischen Überseegebieten, den Resten seines Kolonialreichs, die sich demokratisch für den Verbleib bei Frankreich entschieden haben, allerdings fast immer ohne Autonomie.

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