Die ungarische Mauer

Das illiberale Veto aus Budapest gegen die Ukraine

Von Wolfgang Mayr

Es war nicht anders zu erwarten. Ungarn, die russische Filiale in der EU, kündigte harsch sein Veto gegen die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine an. Die vorgebrachten Argumente von Viktor Orban, der Putin-Lautsprecher in Budapest, waren aber überraschend. 

„Die Ukraine ist in keinerlei Hinsicht in einer Verfassung, um über ihre Beitrittsambitionen zu verhandeln“, tönte Orban im – von seinen Rechtspopulisten kontrollierten – staatlichen Rundfunk. Die Ukraine sei Lichtjahre von einer EU-Mitgliedschaft entfernt.

Orban führte als Argumente gegen eine Mitgliedschaft die Korruption und den Filz an, die Herrschaft der Oligarchen und ihren weitreichenden unkontrollierten Einfluss auf die ukrainische Politik.

Orban weiß, worüber er spricht. Er, seine Partei und die damit verbundenen sowie befreundeten Unternehmer – Oligarchen – beherrschen das Land. So offenbarte ein Besuch des Haushalts-Kontrollausschusses der EU in Ungarn, wie die Orban-Regierung ausländische Unternehmen unter Druck setzt, um Geschäftsanteile für Gefolgsleute zu erpressen. Anderswo wird das organisierte Kriminalität genannt.

Viktor Orbán und seiner Partei nahestehende Oligarchen übernehmen serienweise Firmen. Das gängige Instrument dafür sind offensichtlich Erpressung und Behördenschikane. Korrupte Elite und korrupter Staat.

Orban und seine Polit-Mafia bauten in den zwölf Jahren der Fidesz-Herrschaft den Staat grundlegend um. Weg von der parlamentarischen hin zur illiberalen Demokratie.

Die Wählenden ermöglichten mit ihrer massiven Unterstützung Orban die Umsetzung seines antidemokratischen und europafeindlichen Projekts. Mit ihrer satten Mehrheit verabschiedete die Fidesz grundlegend die Verfassung. Daraus wurde eine maßgeschneiderte Verfassung für den Fidesz-Staat und seinen Nutznießern. 

Besonders gravierend wirkten und wirken sich die autoritären Eingriffe auf die Freiheit der Medien aus. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verkam zum Propaganda-Instrument der Orban-Clique, aber genauso weitreichend waren die Interventionen der Regierung in der privaten Medienlandschaft. Die Medien wurden an die kurze Leine gelegt. 

Die ungarische Regierung behindert Oppositionsgruppen, JournalistInnen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen. In der Republik von Orban herrschen Korruption, Intransparenz und die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte.

Mit welcher Berechtigung Orban sich gegen die Ukraine querlegt, ist ein Rätsel. Das Orban-Ungarn ist ein europäischer Quertreiber, paktelt mit Putin-Russland, biedert sich China an, schwadroniert von der islamistischen Türkei und den autoritären Turk-Staaten Mittelasiens als Friedensstifter. Die Türkei führt Krieg gegen die Kurden im Irak und in Syrien, sponserte den Krieg Aserbeidschans gegen Arzach und gilt als Protege der klerikal-faschistischen Hamas.

Als wesentliche Hürde für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine benannte Orban die Minderheitenpolitik des von Russland überfallenen Landes. Keine Zweifel, die ukrainische Minderheitenpolitik ist nicht vorbildlich. Genauso wenig die Ungarische. Mehr als 13 nationale und ethnische Minderheiten zählt das ungarische Innenministerium. 

Das Nationalitätengesetz von 1993 sieht „Sonderrechte“ für die Minderheiten vor. Wie Selbstverwaltungsorgane, mit denen die eigenen Belange geregelt werden, in den Bereichen Kultur und Schule, usw.

Fakt ist, dass ein Großteil der Angehörigen der verschiedenen Minderheiten kaum mehr die eigene Muttersprache verwendet. Das kommunistische Ungarn und der demokratische Nachfolgestaat setzten konsequent die Magyarisierung der nicht-ungarischen Bevölkerungsgruppen Ungarn fort.

Die Folge, nur mehr ein Bruchteil der Minderheiten-Angehörigen ist wegen der Assimilierungspolitik fit in der eigenen Muttersprache. Die ehemalige Beraterin des staatlichen Büros für nationale und ethnische Minderheiten, Maria Demeter Zayzon, kam in ihrer Untersuchung „Die sprachlichen Rechte der Minderheiten in Ungarn“ zum Schluss, dass die älteren Angehörigen der Minderheiten ihre Sprachen nicht mehr weitergeben: Bei diesen Minderheiten ist der Prozess der Vererbung der Sprache abgebrochen, unter einander wird meistens die ungarische Sprache gesprochen.“

Zayzin vermutete, dass der Sprachverfall- und Verlust mit den Minderheitenschulen gestoppt werden könnte. Die Kraft dafür gibt es laut Zayzin dort, wo nationale Minderheiten noch mehr oder weniger kompakt siedeln. Die Expertenkommission des Europarates stellte aber fest, dass die Zahl der Minderheitenschulen niedrig ist. Keine einzige Minderheit regte in den vergangenen Jahren die Gründung von weiteren Minderheitenschulen an.

Dies teilen auch die Experten des Europarates. Sie empfehlen der ungarischen Regierung alle notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um den Angehörigen der nationalen und ethnischen Minderheiten uneingeschränkte Entfaltung zu ermöglichen. Der Europarat und die EU kritisieren auch die diskriminierende Schwulen- und Lesben feindliche Politik der rechtskonservativen Orban-Regierung. Orban schlägt ähnliche Töne an wie sein Bruder im Geiste, Wladimir Putin.

Die jüdische Bevölkerung wird nicht als eigenständige sprachliche, nationale oder kulturelle Gruppe anerkannt. Eine Bürgerinitiative scheiterte mit einem Anerkennungs-Referendum. 

Ein schwieriges Unterfangen in einem Land, in dem der Ministerpräsident immer wieder gezielt und bewusst antisemitisch hantiert, beispielweise wenn er die Behörden auf die Einrichtungen der NGO Open Society des us-amerikanischen Investors George Soros hetzt. 

Der 1930 in Budapest geborene Soros gilt Orban als „jüdischer Weltverschwörer“, der mit seinen Milliarden angeblich die Migration von Muslimen in die EU finanzieren soll.

Die Roma hingegen stuft der ungarische Staat als Ethnie ein. Sie sind zahlenmäßig die stärkste Minderheit. Die Roma sprechen überwiegend Ungarisch. Nur eine Minderheit verwendet das Romani, besonders in den kleinen Dörfern in Transdanubiens sowie in Szabolcs-Szatmár-Bereg.

Die Roma werden in Ungarn offen diskriminiert, ihre Lebensumstände sind miserabel. Sie finden kaum Jobs, ihre Ausbildung ist dürftig. Schon kurz nach seinem Amtsantritt vor zwölf Jahren zerschlug Orban die Roma-Stiftung. Die Hetze gegen Roma in Ungarn ist erklärte Staatspolitik. „In Ungarn ist die Ausgrenzung von Minderheiten Mainstream: Premier Viktor Orbán lässt keine Chance aus, sich abfällig über die Roma im Land zu äußern – so hat er geholfen, die rassistische Jobbik-Partei hoffähig zu machen“, postete die GfbV auf ihrem Blog. Die Bundeszentrale für politische Bildung stufte Jobbik als rechtsradikale Partei ein.

Der Zentralrat deutscher Sinti und Roma beschreibt die Lage der ungarischen Roma als äußerst prekär, die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen als dramatisch, als segregiert, ohne gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Arbeit, menschenwürdigem Wohnraum und Gesundheitsversorgung. 

Der Zentralrat macht in der Mehrheitsbevölkerung einen tiefverwurzelten Rassismus aus, der mit der Wahl von Viktor Orban vor zwölf Jahren zur Staatsideologe geworden zu sein scheint.

Der Zentralrat zitiert die ungarische Menschenrechtsorganisation European Roma Rights Center (ERRC), die immer wieder Übergriffe auf Roma und deren Eigentum dokumentiert. Diese gelten in den Augen der Ermittlungsbehörden als „gewöhnliche“ Straftaten. Der sogenannte Rassismus-Paragraph (174/B) wird von den Justiz-Behörden meist gegen Roma angewandt, zum Schutz der Mehrheitsbevölkerung.

Diese Rechtspraxis verkehrt laut dem Zentralrat deutscher Sinti und Roma in zynischer Weise den Sinn des Anti-Rassismus-Paragraphen in sein Gegenteil. 

Die NGO „Freedom House“ stuft Ungarn in seinem Bericht für 2022 nur als „teilweise frei“ ein – als einziges Mitgliedsland der EU. Amnesty International spricht deshalb auch von gefährdeten Menschenrechten. 

Also, was hat Ungarn noch in der EU verloren? Orban ist sicher kein demokratischer Lehrmeister, der seinem Nachbarn schlechte Noten ausstellen kann.

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