Wie weiter?

Mit dem Tod von Tilman Zülch ist der Leuchtturm abhanden gekommen.

2014 erhielt Tilman Zülch den Bürgerrechtspreis der deutschen Sinti und Roma von Romani Rose überreicht. Die Laudatio sprach Schwarz-Schilling.

Von Wolfgang Mayr

Es waren nachdenklich stimmende Reden, gehalten auf dem Gottesdienst zum Abschied von Tilman Zülch in Göttingen. Diese Abschiedsreden verdeutlichten einmal mehr, was für ein großartiger Menschenrechtler Tilman war. Engagiert für Vertriebene und Verfolgte, für die Anerkennung der Opfer, gegen die Täter. Egal, welches politisches Markenzeichen sie auch trugen. 

Wie hätte wohl Tilman gegen den russischen Krieg in der Ukraine agiert, gegen die Zerstörung der Dörfer und Städte, gegen die Massenmorde und Vergewaltigungen, gegen die Deportation von ukrainischen Kindern und Familien nach Russland? Diente Bosnien, das Schlachtfeld großserbischer Nationalisten, dem russischen Kriegspräsidenten Putin als Vorbild? 

Wie hätte Tilman auf die Friedensappelle deutscher Intellektueller reagiert, die der Ukraine immer wieder empfehlen, das Kämpfen, das sich Wehren gegen die russische Aggression bleiben zu lassen? Tilmann hätte die richtige Antwort auf den Historiker Peter Brandt und seinen Brandbrief gegen die westliche Unterstützung für die Ukraine gefunden. 

Mir ist nach dem Abschied von Tilman in Göttingen eines klar geworden: Die GfbV muss sich die Frage stellen und gefallen lassen, wie es weiter gehen soll. Der Vorstand ist jetzt in der Pflicht, die Richtung vorzugeben und eine Antwort auf die Frage zu formulieren: Wie weiter? 

Meiner Meinung nach brauchen wir mehr „Tilman“ in der GfbV. Die GfbV muss zu ihren Grundsätzen zurückkehren. Wir waren eine politisch agierende, aktiv die Öffentlichkeit und Politik beeinflussende Organisation, mit getragen vom Ehrenamt und den Betroffenen selbst. Das sind wir heute nicht mehr. 

Tilman warb für die Anerkennung des verdrängten Holocausts an den europäischen Sinti und Roma, für die Abschaffung rassistischer durch und durch antiziganistischer Überbleibsel in der deutschen Gesetzgebung, grenzenlos war sein Einsatz für Bosnien, für die bosnischen Opfer kroatischer und serbischer Aggressoren.

Tilman und sein Team sorgten dafür, dass der Krieg des irakischen Regimes gegen die Kurden bekannt wurde. Er zerrte die verdrängten osmanischen Verbrechen an den Armeniern und Assyrern an die Öffentlichkeit, genauso das grauenhafte „Vorgehen“ der indonesischen Armee auf Timor. 

Tilman bot den sprachlichen und nationalen Minderheiten in Deutschland, das wenig minderheitenfreundlich ist, seine organisatorische Hilfe an. Im österreichischen Bundesland Kärnten solidarisierte er sich mit der gegängelten und um ihre Rechte betrogenen slowenischen Volksgruppe, gleichzeitig nervte er Slowenien, die deutschsprachigen Gottscheer als Volksgruppen anzuerkennen. 

Tilman kritisierte und attackierte Staaten und Regierungen, die Menschenrechte verletzten, im Namen des Fortschritts und des Sozialismus. Im schmutzigen Krieg der angeblichen linken Sandinisten gegen die Miskitos an der Atlantikküste Nicaraguas stellte sich Tilman auf die Seite der Angegriffenen, auch wenn sie von der CIA gesponsert wurden. Genauso griff er das Schicksal der alleingelassenen ostdeutschen Opfer des Stalinismus auf, machte sich zum Sprachrohr der deutschen Überreste in Ost-Europa, suchte den Kontakt zu den deutschen Vertriebenen, plädierte für eine Politik der Integration der Russland-Deutschen in die bundesdeutsche Gesellschaft. Ironie der Geschichte, manche, gar viele dieser Russland-Deutschen sind heute eine laute Bastion des Putin-Russlands in Deutschland.

Gerade wegen dieses Engagements griff die radikale deutsche Linke Tilman an, versuchte ihn ins völkische Eck zu drücken. Auch deshalb, weil Tilman von „Völkern“ sprach, sich für „bedrohte Völker“ engagierte, die es laut dieser Linken nicht gibt. Diese Linke spricht und schreibt deshalb konsequent nicht mehr vom uigurischen Volk oder von der kurdischen Nation, diese woke Linke kennt nur mehr Uigur:innen und Kurd:innen. Eine Linke, die heute mit der völkischen pro-russischen Rechte paktelt.

Dem stehen ein Dutzend Auszeichnungen gegenüber, darunter der Göttinger Friedenspreis, der Europäische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma, die Ehrenbürgerschaft der bosnischen Hauptstadt Sarajewo und das Bundesverdienstkreuz.

Was hat Tilman ausgemacht? Seine Fähigkeit, Menschen für ein Anliegen zu gewinnen, sie zu mobilisieren, für Aktionen, auch deshalb entstanden bundesweit mehrere Regionalgruppen. Diese losen Vereinigungen machten die Bürgerrechtsbewegung GfbV aus, die einzelnen Regionalgruppen widmeten sich unterschiedlichen Themen und Problemen. Sie widerspiegelten die thematische Vielfalt des GfbV-Engagements. Auf vielen Jahreshauptversammlungen sorgten die Aktiven der Regionalgruppen für Diskussionen, die Regionalgruppen als Basis der GfbV.

Auch deshalb schaffte es Tilman, während des Krieges in Bosnien gemeinsam mit Fadila Memisevic ein Großkundgebung in Oggersheim zu organisieren. Eine Kundgebung gegen den damaligen Bundeskanzler Helmuth Kohl, der wie andere westeuropäische Staatenlenker auch, Bosnien im Stich ließ.

Hier fehlt Tilman, sein vehementer Widerspruch. Wie schon im Bosnien-Krieg, der Westen belegte damals die Angegriffenen mit einem Waffenembargo, stehen Teile der Linken und die Rechte im russischen Ukraine-Krieg auf der Seite des Aggressors. Aus ideologischen Gründen verdrängen und vergessen „Kriegsgegner“ und „Pazifisten“ die Opfer. Für sie engagierte sich Tilman, unermüdlich, streitbar, parteiisch, vehement. 

Am Tag seines Begräbnisses am 1. April demonstrierten in Göttingen linke und rechte Gegner der Bundesregierung, für Frieden, gegen Krieg, für Russland, gegen die Ukraine. Laute deutsch-egoistische, menschenverachtende Stimmen, ohne Widerspruch. Tilman, der Leuchtturm fehlt.

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