04-08-2022
„Verlustschmerz“
Russland beklagt den Verlust des „sowjetischen Raums“, die Bewohner dieses Raumes streben aber noch weiter weg.
Von Wolfgang Mayr
Walter Laqueur, lange Direktor des Londoner Instituts for Contemporary History und Mitarbeiter des Center of Strategic and International Studies, beschreibt in seinem Buch „Putinismus“ die tiefwirkende nationalistische Idee, dass Russland nur als Großmacht existieren kann. Viele der verlorenen Gebiete empfinden Russen als Bestandteile des eigentlichen Russlands. Ein Trauma und ein gewaltiger Verlustschmerz, prognostizierte Laqueur das russische Leiden.
Die Ukraine gilt als ein solcher Bestandteil, weil im fernen Mittelalter die Kyjiwer Rus die Wiege der russischen Nation gewesen sein soll. Ähnlich argumentiert das nationalistische pro-russische Serbien im Fall Kosovo, das berühmte Amselfeld, das illiberale Ungarn im Fall des Szekler-Landes in Rumänien, die kommunistische Volksrepublik China im Fall Taiwan(oder auch Tibet, Ost-Turkestan, Hongkong). Als Verlust empfindet das nationalistische Russland auch die vielen Millionen Russen, die außerhalb seiner Grenzen leben, in neuen Nationalstaaten in Estland, Lettland und Litauen, in Georgien, in Moldawien, in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken.
Das russische Reich besteht keineswegs seit Jahrtausenden, hält Laqueur den Großrussen in seinem Buch „Putinismus“ die unbequemen Fakten entgegen. Russland raubte und besetzte Land, wie die Krim 1783, Georgien 1810, Aserbaidschan 1813. Die Nordkaukasier wehrten sich jahrzehntelang gegen die russische Eroberung, die Moldawier wie auch Esten, Letten und Litauer.
Die bolschewistische Sowjetunion von Lenin und Stalin setzte ungeniert die Eroberungen des zaristischen Russlands fort. Selbstbestimmungsrecht der Völker? Für die Bolschewiki keine Option. Im Gegenteil, die russisch beherrschte Sowjetunion samt Warschauer Pakt – also das östliche Europa – wurde zum Super-Großrussland. Zu einem Imperium, in dem die Eroberten zu proletarischen Hilfsvölkern degradiert wurden. Das Sagen hatten in allen Ecken und Enden des Imperiums Russen, die dort auch gezielt angesiedelt wurden. Kolonialismus der übelsten Sorte.
Die russische Führung um Kriegspräsident Putin bietet sich den Ländern im Süden der Welt, besonders in Lateinamerika und Afrika, als antikolonialistischer Bündnispartner an. Lateinamerikaner und Afrikaner, in all ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt, scheinen die russische Geschichte nicht zu kennen. Beispiel die Eroberung Sibiriens.
Im 16. Jahrhundert erkundeten erstmals russische Expeditionen Sibirien, errichteten Handelsposten, im 19. Jahrhundert war Sibirien immer noch spärlich besiedelt. In den 1860er Jahren gründeten Matrosen Wladiwostok, Irkutsk am Baikalsee folgte später, die größte Stadt jenseits des Urals, Nowosibirsk, ist gerade mal knapp über hundert Jahre alt.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde Zentralasien Teil Russlands. Die Wegbereiter der russischen Landnahme waren Männer mit Namen wie Kaufmann, Steller, Martens oder Mannerheimer, also keine legendären Rus-Gründerväter, spöttelte Laqueur.
Vieles davon ging mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren: Der gesamte Ostblock, die baltischen Teilrepubliken, die Ukraine, Georgien, die zentralasiatischen Republiken. Seit Wladimir Putin an der Macht ist, versucht das etwas geschrumpfte Russland verlorenes Terrain zurückzuholen. Teile Georgiens, Tschetschenien wurde niedergebombt, die Krim und die Ost-Ukraine, inzwischen ein Fünftel der gesamten Ukraine.Imperialismus der harten Tour und dafür gibt es überraschenderweise Verständnis und Applaus in Afrika und in Lateinamerika.
Und es brodelt in Sibirien. Laqueuer berichtet in seinem Buch „Putinismus“ von einer sibirischen Unabhängigkeitsbewegung. Der koloniale Zustand Sibiriens, reiner Rohstofflieferant für die Metropolen, sorgt für Unruhe und Unzufriedenheit. Die Behörden untersagten Bürgerversammlungen, weil sie als Foren für angebliche Separatisten galten und gelten.
Das Kreml-Regime reagierte, mit kosmetischen Zugeständnissen. Einwohnern Sibiriens wurde gestattet, in ihren Ausweisen statt „russisch“ „sibirisch“ als Nationalität anzugeben. Die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit vertreibt „russische“ Menschen aus Sibirien. Der nationalistisch eingefärbte Demograph Anatoli Antonow befürchtet deshalb, dass die sibirische Bevölkerung von derzeit 40 Millionen in 20 Jahren auf 20 Millionen absinken wird, zitierte Laqueur den panikmachenden Demographen.
In Sibirien leben aktuell pro Quadratkilometer Land weniger Menschen als in der äußerst dünn besiedelten fast menschenleeren Sahara. Im äußerstem Fernen Osten Russland leben fünf Millionen Menschen, in den angrenzenden südlichen chinesischen Distrikten mehr als 100 Millionen. Gibt es chinesische Landgelüste? 1969 beschossen sich am Fluss Ussuri Soldaten der sowjetischen Roten Armee und der chinesischen Volksbefreiungsarmee, vordergründig ging es um die staatliche Zugehörigkeit der kleinen im Ussuri gelegenen Insel Zhenbao Dao oder Damanski.
China setzt statt auf militärische Präsenz an der russisch-chinesischen Grenzen inzwischen auf den Sog und die Kraft seiner manchesterkapitalistischen Wirtschaft. Offen ist, welche Pläne China in Sibirien verfolgt.
In vielen Teilen dieses Birken- und Tundralandes schrumpft die Zahl der ethnischen Russen kontinuierlich. Ein Problem, dem man bis vor kurzem wenig Aufmerksamkeit schenkte, formulierte es 2015 Walter Laqueuer in seinem Buch „Putinismus“. Seit den 1970er nimmt der Anteil der ethnischen Russen an den Bevölkerungen der Republiken Burjatien, Altai, Sacha (Jakutien) und Tuwa ständig ab. Junge Männer aus diesen Republiken kämpfen in der russischen Armee in der Ukraine, manche von ihnen waren an Kriegsverbrechen beteiligt.
Diese Republiken sind ein Männer-Reservoire für die russische Aggressionsarmee, der russische Kriegsminister Sergei Schoigu stammt aus der Republik Tuwa, Heimat der turksprachigen Tuwiner.
In diesen Republiken wächst aber auch der Unmut über die kolonialistische Behandlung durch Moskau und über die Plünderung von Rohstoffen, mit tatkräftiger Unterstützung europäischer Unternehmen.
In Prag nutzten Ende Juli VertreterInnen verschiedener nicht-russischer Nationalitäten die demokratische Freiheit in der EU, heftige Kritik am russischen Kolonialismus zu üben. Auf dem Prager Forum verabschiedeten die Delegierten ihre Erklärung zur DekolonisierungRusslands. Einige klare An- und Aussagen:
Die Vertreter der indigenen Völker und kolonisierten Regionen der Russischen Föderation, organisiert im Forum der freien Nationen, werfen der russländischen Regierung von Präsident Putin vor, ihre Grundrechte und -freiheiten zu verletzen und zwar über eine systematische Politik des Terrors und der Repression.
Mit seiner imperialen Politik zwang Moskau nicht-russische Völker in eine unterlegene koloniale Stellung. Die Angehörigen der indigenen Völker und die Bewohner der Regionen werden diskriminiert.
Moskau verfolgt eine Politik des Ökozids und der Enteignung der Regionen und indigenen Völker. Damit wird das Recht auf eigene Entwicklung verweigert.
Die systematische Zwangsassimilation erfolgte über die Kolonialisierung und die Zerstörung der Kulturen und Sprachen.
Die Selbstverwaltung wurde unterbunden, auch über das Verbot eigener rechtmäßig gewählter VertreterInnen. Die systematische Verweigerung des Rechts auf Beteiligung an der Entscheidungsfindung macht deutlich, wie kolonialistisch der Staatsaufbau Russlands ist.
Die Regionen nicht-russischer Völker dienen dem russischen Staat zur Lagerung von Kernwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen.
Die Russische Föderation ist heute ein terroristisches Land, das von Kriegsverbrechern geführt wird. Die Serie von Kriegen, die die imperiale Führung der Russischen Föderation in den letzten 30 Jahren entfesselt hat, raubt den indigenen Völkern und kolonisierten Regionen das Recht auf Leben, denn es sind die indigenen Völker und kolonisierten Regionen, deren Angehörigen als „Kanonenfutter“ benutzt werden.
Mit dem Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine wurden Völker und Regionen gegen ihren Willen in Kriegsverbrechen verwickelt, darunter in den vom Kreml entfesselten Völkermord an der ukrainischen Nation.
Das Forum plant für November-Dezember 2022 eine internationale Konferenz über die friedliche Entkolonialisierung Russlands. Das Forum leistet sich einen wagemutigen Traum, die völlige Auflösung der russländischen Föderation.
Die Vorstellungen reichen weit, autochthone und bisher kolonisierte Regionen sollen Staaten werden, wie Tatarstan, Ingria, Bashkortostan, Karelien, Burjatien, Kalmykien, die neuen baltischen Republiken bestehend aus Kaliningrad/Königsberg im ehemaligen nördlichen Ostpreußen, Komi, Tscherkassien, Sibirien, Uralrepublik, Don, Tuwa, Kuban, Dagestan, Pazifische Föderation (Gebiet von Primorje und Priamurje), Moskauer Republik, Erzyan Mastor, Sacha, Pomorie, Tschuwaschien, Tschernosem-Region, Mordowien, Wolga-Region, Chakasien, Udmurtien, Tjumen-Jugra, Mari El, Altai, Inguschetien und andere.
Die Erben der bisherigen Föderation sollen sich das Vermögen und die Schulden Russlands aufteilen, einschließlich Reparationszahlungen an Staaten übernehmen, die Opfer einer militärischen Aggression durch die Russische Föderation geworden sind, Sakartvelo, Itschkeria, Moldawien, Ukraine.
Die Forums-Teilnehmenden rufen die indigenen Völker und kolonisierten Regionen auf, sich am friedlichen Widerstand zu beteiligen. Wie Streiks, Demonstrationen, Streikposten, Sabotageakte gegen Befehle des imperialen Zentrums, Verweigerung des Dienstes in den Streitkräften der Russischen Föderation, Überlaufen zur ukrainischen Armee.
Als Fernziel formulierte das Prager Forum die Gründung eines Vertretungsorgans aller kolonialisierten indigenen Völker und Regionen der Russischen Föderation.
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