22-08-2021
Verfälschte Geschichte – Putin und die unfolgsame Ukraine

Von Wolfgang Mayr
Der russische Präsident Putin versucht sich als Historiker. Mit seiner Geschichtsschreibung untermauert Putin seine anti-ukrainische Politik. Am 12. Juli veröffentlichte er einen Essay über die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern. Putin leitet aus der gemeinsamen Geschichte der beiden Völker in der mittelalterlichen Kyjiwer Rus sein Konzept ab, dass Russen und Ukrainer in einem „spirituellen Raum“ lebten und ein Volk sind.
Martin Schulze Wessel, Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Co-Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission, widerspricht auf „Ukraine verstehen“ dem geschichtsschreibenden russischen Präsidenten (siehe link: Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung – ukraineverstehen.de). Daraus einige Auszüge:
Über die Funktion des Textes kann kaum ein Zweifel bestehen: Er enthält eine unverhüllte Drohung an die Ukraine und warnt Kyjiw vor der Verbindung mit den westlichen Staaten, die Putin als systematische Feinde der Einheit von Russen und Ukrainern darstellt.
Ein apokalyptisches Szenario zeichnet er für den – ohne tatsächliche Grundlage angenommenen – Fall einer erzwungenen Assimilation der in der Ukraine lebenden Russen. Dies komme, so Putin, „der Anwendung von Massenvernichtungswaffen gegen uns“ gleich. Wie bei der Annexion der Krim könnte der Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit der in der Ukraine lebenden Russen als Legitimation für eine künftige Intervention dienen.
Geschichtsforschung unter Strafandrohung
Neue Institutionen wurden geschaffen, um der staatlichen Sicht auf die Geschichte Geltung zu verschaffen. So wurde z.B. in der russischen Staatsanwaltschaft 2020 eine eigene Abteilung für die Verteidigung der offiziellen historischen Wahrheit gegründet, die auch über strafrechtliche Mittel verfügt. Geschichtsklitterung spielte eine große Rolle, als der Kreml die Krim als vermeintlich urrussisches Gebiet annektierte und den Ukrainern auf dem Maidan faschistische Traditionen andichtete.
Heute legitimiert Putin seine aggressive Ukraine-Politik mit dem alten imperial-russischen Narrativ der Wiederherstellung und Erhaltung der Einheit der ostslawischen orthodoxen Völker.
Widerspruch aus der Ukraine
Ukrainische Historiker verbinden die Kyjiwer Rus eng mit Staatsgebilden, die sie als Vorläufer der modernen Ukraine ansehen wie dem Großfürstentum Litauen, das im Spätmittelalter große Teile der belarusischen und ukrainischen Bevölkerung in sich vereinte, und dem Hetmanat der Kosaken in der Frühneuzeit. Für diese Sicht auf die Geschichte gibt es gute Gründe, doch ist das russische Narrativ nicht nur in Russland, sondern auch in historischen Darstellungen im Westen sehr viel besser etabliert. Auf diesen ungleichen Kenntnisstand kann Putin sich mit seiner höchst einseitigen Geschichtsdeutung stützen.
Religion als national konstituierender Faktor?
Putins Verständnis von der Nation gleicht im Wesentlichen dem stalinistischen Konzept, doch haben sich die konkreten Merkmale der Nation verändert. Neben den Kriterien der Sprache und des Territoriums hob Stalin die Wirtschaft hervor, während Putin die Religion als Merkmal betont. Die Annahme einer überzeitlichen Kontinuität der Nation, die Putin als eine gemeinsame Großnation der Russen, Ukrainer und Belarusen begreift, lässt eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer und Belarusen nicht zu.
Die frühe Europäisierung der Ukraine und Belarus
Ukrainer und Belarussen waren in dem Großfürstentum Litauen in einen politischen und sozialen Wandel einbezogen, den man als eine frühe Form der Europäisierung begreifen kann. Städte wie Lemberg, Kyjiw und Minsk erhielten städtische Privilegien, sie gewannen Selbstverwaltungsrechte und wurden in diesem Sinne zu europäischen Städten.
Adelsrepublik vs. autokratisches Zarentum
Die strukturellen Unterschiede zwischen Russland und der Ukraine wurde vor allem im 16. Jahrhundert sichtbar, als die Adelsrepublik Polen-Litauen ihre Blütezeit erlebte, während in Moskau das autokratische Zarentum dominierte. Dieser Gegensatz ist nicht auf die schlichte Formel „europäische Ukraine – nicht-europäisches Russland“ zu verkürzen.
Der Maidan als Zäsur
Seit dem Maidan hat die Ukraine den Weg einer Europäisierung im Sinne der Verknüpfung von Nationalstaatlichkeit mit einer liberal und demokratisch verfassten Regierungsform eingeschlagen, während in Russland das Nationalgefühl mit imperialer Tradition verbunden ist. Selbst unter Kriegsbedingungen ist in der Ukraine eine Demokratie entstanden, die politische Willensbildung unter freien Bedingungen gewährleistet. Die Entwicklung der Ukraine als unabhängige Nation hat dabei nichts so befördert wie die machtpolitische Herausforderung durch Russland seit der Annexion der Krim. Putin schreibt Geschichte in doppelten Sinn. Paradoxerweise hat er als Präsident das mitgeschaffen, was er als Historiker nun leugnen will.
Professor Martin Schulze Wessel und Co-Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Historikerkommission widerlegte die Putin-Thesen über die gemeinsame russisch-ukrainische Nation, (link: Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung – ukraineverstehen.de).
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