Naher Osten-Kurdistan: Es geht nur ums Überleben

Eine “Neuordnung” muss unterdrückte Nationen einschließen (1)

Nilüfer Koc vom Kurdischen Nationalkongress forderte auf der Ciemen-Coppieters-Tagung in Barcelona die Demokratisierung der Türkei. Foto: Gerard Magrinya

Nilüfer Koc vom Kurdischen Nationalkongress forderte auf der Ciemen-Coppieters-Tagung in Barcelona die Demokratisierung der Türkei. Foto: Gerard Magrinya

Von Wolfgang Mayr

 

Die neue Weltordnung verspricht nichts Gutes. Weder die USA, Russland und China noch viel weniger, scheren sich um Menschenrechte und kollektive Rechte der Völker. Beispiele dafür, Kurdistan und die Westsahara. Sie wollen gehört werden. Die katalanische NGO Ciemen organisierte dazu die Dialogreihe “Die Herausforderung des Friedensaufbaus”.

Russland führt seit drei Jahren einen Eroberungskrieg in der Ukraine, nach den Massakern der Hamas am 7. Oktober 2023 an israelischen Zivilisten überzieht Israel mit einem unverhältnismäßigen Krieg den Gaza-Streifen und schikaniert die Bevölkerung des Westjordanlandes. Im Geiste Putins warb US-Präsident Trump für die “freiwillige Aussiedlung” der Gaza-Bewohner, also für deren Vertreibung.

Israel und die USA bombardierten iranische Atomanlagen, um den Bau einer Atombombe zu verhindern. Das religiös-faschistische Regime hält an seinem Ziel fest, den “zionistischen Staat” zu vernichten.

Krude Zeiten für jene, die aus dem Raster fallen. Ihren Blick darauf warfen bei der Ciemen-Konferenz am 19. Juni Nilüfer Koç vom Kurdischen Nationalkongress und Yaguta El-Mokhtar Moulay vom Sahrauischen Observatorium für Naturressourcen und Umweltschutz.

 

Was tut sich zwischen der PKK und der Türkei?

Für Politikwissenschaftlerin Koç vom PKK nahen Kurdischen Nationalkongreß (KNK), einer Koalition kurdischer Organisationen mit einer starken Präsenz in der Diaspora, bleibt die Selbstbestimmung weiterhin ein Ziel. Sie plädierte aber auch für das Experiment des “demokratischen Konföderalismus”, propagiert einst von der PKK und praktiziert im kurdischen Autonomie-Gebiet in Nord-Syrien.

Mit der angekündigten Auflösung der PKK im Mai 2025 wurde in der Türkei ein Prozess angestoßen. “Es ist aber kein Verhandlungsprozess wie in Irland, Kolumbien oder Südafrika”, verneinte Koç die Bezeichnung Friedensprozess. Trotzdem ist diese Entwicklung “einzigartig, weil sie an einem enorm kritischen Ort stattfindet, dem Nahen Osten, und zu einem ebenso kritischen historischen Zeitpunkt.“

Dort bricht derzeit vieles zusammen, analysierte die kurdische Politologin Koç. Die “einstürzende” Sowjetunion riss nachhaltig die Ordnung nieder, die einst das Vereinigte Königreich und Frankreich am Ende des Ersten Weltkriegs geschaffen haben. Koc verweist auf die Auflösungserscheinungen in Libyen, in Syrien und im Irak.

Lücken tun sich auf, die die Erdogan-Türkei mit einem neuen “Osmanismus” füllen möchte. Die Türkei mischt mit ihren islamistischen Verbündeten in Syrien mit, im Irak mit den Barsani-Kurden. Die Türkei unterstützte, in seltener Eintracht mit Israel, Aserbaidschan gegen die – inzwischen “ethnisch gesäuberte” – armenische Enklave Arzach und gegen die Republik Armenien.

 

Der „Verzicht“ auf Autonomie

In diesen Zeitrahmen fällt die Ankündigung der PKK, die Waffen niederzulegen. Ohne irgendwelche Vorbedingungen und ohne Forderung nach kurdischer Selbstverwaltung. Koc sieht darin aber kein Eingeständnis einer Niederlage. Laut Koç engen Grenzen die Autonomie ein: “Und die Kurden müssen aufhören, in Grenzen zu denken. Deshalb gehört zu den Forderungen jetzt nicht mehr die regionale Autonomie, sondern die Demokratisierung der Türkei.“

So drängt die PKK auf die Direktwahl der Gouverneure, auf eine demokratische Reform der Gemeinden, wie sie in der Charta der kommunalen Selbstverwaltung des Europarats – unterschrieben auch von der Türkei – festgeschrieben ist. Die Realität in der Türkei ist aber eine andere: Die Erdogan-Regierung setzte eine Vielzahl gewählte kurdische Bürgermeister ab.

Die neue kurdische Bewegung, die sich vom Mythos Widerstand in den Bergen verabschiedete, richtet ihr Augenmerk auf die Städte, darunter Istanbul oder Izmir, wo Millionen Kurden leben. Diese Bewegung fordert auch das Recht auf Bildung in der Muttersprache ein.

Koc beschrieb die kurdische Bewegung in der Türkei kreativ, wie auch die kurdische Politik in Rojava. Der wird von linken Organisationen vorgeworfen, mit den USA verbündet zu sein. Um in Syrien bestehen zu können, argumentierte Koc, muss man mit allen reden: “Das Revolutionäre im Nahen Osten ist das Überleben. Und um zu überleben, müssen sich die Menschen organisieren und politisieren.“

 

Die Folgen des iranischen Szenarios

Koc zweifelte daran, dass Israels Angriffe den Iran demokratisieren werden. Die Demokratisierung wird nur durch den Druck der Bevölkerung gegen das Regime der Mullahs, mit Unterstützung der Kurden, der Aserbaidschaner, der Belutschen und der Ahwazis erfolgen, ist Koc überzeugt. Die Kurden im Iran suchen unter den progressiven Kräften Bündnispartner, nicht mit den Anhängern des Schahs, sagte Koc auf der Ciemen-Konferenz.

Wegen des Regime-Terrors wagen sich im Iran keine Demonstranten auf die Straßen. Laut Koc viel zu gefährlich, sie verwies auf die vielen Razzien, die das Regime nach den israelischen Bombardements anordnete. Auch die Kurden halten sich zurück. Die Erklärung von Koc: “Das könnte von anderen Akteuren instrumentalisiert werden. Das ist nicht unser Interesse, sondern das Interesse von Ankara,” warnt Koc. Sie setzt deshalb auf die Demokratisierung der Türkei, die enorme Auswirkungen auf den Nahen Osten haben wird.

 

Und die Rolle der Kurden?

Dafür müssen laut Koç einige Fragen beantwortet werden. Wie die Freilassung des seit 26 Jahren in türkischen Gefängnissen einsitzenden PKK-Gründers Öcalan, der diesen Prozess begleiten soll, eine der Forderungen der PKK. Nächste Forderung, die Türkei muss die Verfassung und ihre Anti-Terror-Gesetze ändern und die politischen Gefangenen entlassen. Parlament und zivilgesellschaftliche Organisationen sollen die Reformen begleiten.

Koç hofft auf die Vermittlungen zwischen Türkei und Kurden durch europäische Staaten. Bisher lehnte Ankara dies strikt ab. Die Politikwissenschaftlerin führt dies auf inner-türkische Konflikte zwischen Reformern und “Bewahrern” zurück. Setzen sich die Konservativen durch, also keine internationale Vermittlung, will der Kurdische Nationalkongress die UNO, den Europarat und die EU um Hilfe bitten, damit die Türkei ihren eingegangenen internationalen Verpflichtungen nachkommt.

Politologin Koç kann sich auch vorstellen, die kurdische Diaspora – dazu zählen vielen Menschen, die außerdem gut organisiert sind – zu mobilisieren. Fast nach Drohung schmeckt ihr Hinweis, dass die Kurden über militärische Ressourcen verfügen, wie die SDF-Milizen in Rojava. Diese denken schon darüber nach, eine kurdischen Nationalarmee außerhalb der türkischen Grenzen zu gründen.

Siehe auch:
Ciemen
Ideas for Europe

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