Ukraine ver­ste­hen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt

Von Wolfgang Mayr

Die politisch gewollte Hungersnot von 1932-1933 – der Holodomor – hat die ukrai­ni­sche Gesell­schaft und Kultur dra­ma­tisch ver­än­dert. Der Holodomor hinterließ auch tiefe Narben im natio­na­len Gedächt­nis, analysiert der ukrainisch-amerikanische Pro­fes­sor Serhii Plokhii die Geschichte und Bedeu­tung des Holodomor.

Dieser Text ist im Sam­mel­band „Ukraine ver­ste­hen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ veröffentlicht worden. Er ist 2020 erstmals erschie­nen und wurde vom Lysiak-Rud­nytsky Ukrai­nian Studies Pro­gramme des Ukrai­nian Insti­tute gefördert (aus dem Eng­li­schen von Olena Bykovets).

„In fast jedem Dorf war der Brot­vor­rat zwei Monate zuvor erschöpft, die Kar­tof­feln waren nahezu ver­braucht, und es gab nicht genug Rüben, die früher an das Vieh ver­füt­tert wurden, jetzt aber zu einem Grund­nah­rungs­mit­tel der Bevöl­ke­rung gewor­den sind, um bis zur nächs­ten Ernte durch­zu­hal­ten“, schrieb Gareth Jones, ein wali­si­scher Jour­na­list im März 1933 an den Her­aus­ge­ber des Man­ches­ter Guar­dian. Er schilderte, was er ein paar Wochen zuvor in der länd­li­chen Ukraine gesehen hatte. Die grassierende Hungersnot.

Der Pulitzer-Preisträger Walter Duranty von der New York Times widersprach Jones. Duranty gab zwar „Nah­rungs­mit­tel­knapp­heit“ zu, aber keine Hun­gers­not. Wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft und der staatlichen Beschlagnahmung der Ernten herrschte in der Sowjetunion totale Knappheit an Lebensmitteln, aber in manchen Regionen auch schon Hunger. Die Ukraine war am här­tes­ten betrof­fen, vier Millionen Menschen starben, mehr als die Hälfte derer, die in der Sowjet­union in dieser Zeit verhungerten.

Kollektivierung und Terror

Das stalinistische Regime kollektivierte mit Terror die Bauern, besonders in der Ukraine. Mitte 1932 waren zwei Drittel der ukrai­ni­schen Bauernhöfe kol­lek­ti­viert, im Gegen­satz zu durch­schnitt­lich 60 Prozent in der SU. Die Repu­blik, die 27 Prozent des sowje­ti­schen Getrei­des pro­du­zierte, musste 38 Prozent aller Getrei­de­lie­fe­run­gen an den Staat liefern.

Viele Landgemeinden wehrten sich gegen die brutale Enteignung, gegen die Zwangsabgabe der Ernten und gegen die unsinnigen Befehle aus Moskau und Kiev. Den aufkeimenden bäuerlichen Widerstand schlugen die Sicherheitskräfte des roten Regimes nieder, die wenigen selbständigen Bauern wurden in die Kolchosen geprügelt. Für Stalin erklärte die bäuerlichen Widerständler zu unverbesserlichen ukrainischen Nationalisten, gegen die sich die ganze Macht des sowjetischen Arbeiter- und Bauernstaates richtete.

Der Widerstand wurde gebrochen, weil die Ukraine alle Ernten für den Export abzuliefern hatte. Das war wohl die durchdachte und gezielte Hunger-Strategie. Neben der wirtschaftlichen Strangulierung brach das Regime und seine willigen Helfershelfer auch über die Kulturpolitik der Ukraine das Rückgrat. Die Kommunisten setzten auf die faschistische Assimilierungspolitik. Die ukrainische Sprache wurde verboten, Russisch galt als einzige Landessprache.

Hun­derte von ukrai­ni­schen Partei- und Kul­tur­ka­dern wurden ent­las­sen, ver­haf­tet und ins Exil geschickt, während einige der wich­tigs­ten För­de­rer der Ukrai­ni­sie­rungs­po­li­tik, wie der Volks­kom­mis­sar für Bildung Mykola Skryp­nyk und der füh­rende kom­mu­nis­ti­sche Schrift­stel­ler der Ukraine Mykola Chwy­lo­wyj, Selbst­mord begingen.

Das KP-Regime plünderte die Ukraine

Die staatlichen Behör­den ließen die Speicher der Bauernhöfe und Dörfer restlos plündern, die ihre Quoten nicht erfüll­ten. Beson­ders hart betrof­fen waren die Regio­nen der Zen­tral­ukraine, die sich von der Hun­gers­not von 1932 noch nicht erholt hatten. Mehr als die Hälfte der geschätz­ten vier Mil­lio­nen verhungerten Ukrai­ner und Ukrai­ne­rin­nen kamen in Regio­nender Ukraine ums Leben, die nicht zu den Getreide pro­du­zie­ren­den land­wirt­schaft­li­chen Kern­ge­bie­ten des Landes gehör­ten.

Die bewusst herbei geführte Hungersnot wurde für das Stalin-Regime die Waffe, um die Ukraine vollständig zu unterwerfen. Das Regime dementierte die Vorwürfe, dass in der Ukraine Menschen an Hunger starben. An dieser Interpretation hielt das sowjetische Regime bis zum Zusammenbruch fest.

Holodomor ist gleich Genozid

Nach der Auflösung der Sowjet­union durfte ungestraft die Frage gestellt werden, ob der Holo­do­mor als ein Völ­ker­mord an der ukrai­ni­schen Nation zu betrach­ten sei. Raphael Lemkin definierte die ukrainische Hungersnot als Völkermord. Lemkin prägte den Begriff „Völ­ker­mord“, „Genozid“. Als solchen erklärte das ukrai­ni­sche Par­la­ment 2006 den Holo­do­mor. Mehrere Par­la­men­te und Regie­run­gen ver­ab­schie­de­ten ähn­li­che Reso­lu­tio­nen, während die rus­si­sche Regie­rung eine inter­na­tio­nale Kam­pa­gne gegen die Anerkennung des Holodomor als Genozid startete.

Für Professor Plokhii von der Universität Harvard war die Hun­gers­not in der Ukraine die Folge einer Politik, die eine unübersehbare eth­no­na­tio­nale Färbung hatte. Diese Politik zielte nicht nur auf die Bau­ern­schaft, sondern auf die neue politische Klasse und die kul­tu­relle Elite ab. Das Regime war nicht nur hinter dem ukrai­ni­schen Getreide her, sondern hatte auch die ukrai­ni­sche Kultur und letzt­lich die ukrai­ni­sche Iden­ti­tät selbst im Visier, kommt Professor Plokhii zum Schluss.

Quellen: „Ukraine ver­ste­hen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ und Lysiak-Rud­nytsky Ukrai­nian Studies Pro­gramme des Ukrai­nian Insti­tute

Holodomor: Geschichte und Bedeutung der großen Hungersnot (ukraineverstehen.de)

Holodomor: Ukrainians remember the famine that killed millions in Soviet Ukraine – Bing video

HOLODOMOR THE MOVIE – TRAILER 2010 – Bing video

Bilder von der Grund­stein­le­gung für das Holocaust-Mahnmal in Odesa (ukraineverstehen.de)

Gedenken an das Babyn Jar von Odesa und Grundsteinlegung für das Holocaust-Mahnmal (ukraineverstehen.de)

Der Weg der Unsterblichen – ukraineverstehen.de

Gegen das Vergessen – Treffen mit Anwohnern zum Vorhaben der Gedenkstätte in Odesa – ukraineverstehen.de

Leerstellen der Geschichte: Die sowjetische Politik des (Nicht)-Erinnerns an den Holocaust – ukraineverstehen.de

„Die Geschichte eines Juden in der Sowjetunion“ – ukraineverstehen.de

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