10-11-2021
Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt
Von Wolfgang Mayr
Die politisch gewollte Hungersnot von 1932-1933 – der Holodomor – hat die ukrainische Gesellschaft und Kultur dramatisch verändert. Der Holodomor hinterließ auch tiefe Narben im nationalen Gedächtnis, analysiert der ukrainisch-amerikanische Professor Serhii Plokhii die Geschichte und Bedeutung des Holodomor.
Dieser Text ist im Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ veröffentlicht worden. Er ist 2020 erstmals erschienen und wurde vom Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute gefördert (aus dem Englischen von Olena Bykovets).
„In fast jedem Dorf war der Brotvorrat zwei Monate zuvor erschöpft, die Kartoffeln waren nahezu verbraucht, und es gab nicht genug Rüben, die früher an das Vieh verfüttert wurden, jetzt aber zu einem Grundnahrungsmittel der Bevölkerung geworden sind, um bis zur nächsten Ernte durchzuhalten“, schrieb Gareth Jones, ein walisischer Journalist im März 1933 an den Herausgeber des Manchester Guardian. Er schilderte, was er ein paar Wochen zuvor in der ländlichen Ukraine gesehen hatte. Die grassierende Hungersnot.
Der Pulitzer-Preisträger Walter Duranty von der New York Times widersprach Jones. Duranty gab zwar „Nahrungsmittelknappheit“ zu, aber keine Hungersnot. Wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft und der staatlichen Beschlagnahmung der Ernten herrschte in der Sowjetunion totale Knappheit an Lebensmitteln, aber in manchen Regionen auch schon Hunger. Die Ukraine war am härtesten betroffen, vier Millionen Menschen starben, mehr als die Hälfte derer, die in der Sowjetunion in dieser Zeit verhungerten.
Kollektivierung und Terror
Das stalinistische Regime kollektivierte mit Terror die Bauern, besonders in der Ukraine. Mitte 1932 waren zwei Drittel der ukrainischen Bauernhöfe kollektiviert, im Gegensatz zu durchschnittlich 60 Prozent in der SU. Die Republik, die 27 Prozent des sowjetischen Getreides produzierte, musste 38 Prozent aller Getreidelieferungen an den Staat liefern.
Viele Landgemeinden wehrten sich gegen die brutale Enteignung, gegen die Zwangsabgabe der Ernten und gegen die unsinnigen Befehle aus Moskau und Kiev. Den aufkeimenden bäuerlichen Widerstand schlugen die Sicherheitskräfte des roten Regimes nieder, die wenigen selbständigen Bauern wurden in die Kolchosen geprügelt. Für Stalin erklärte die bäuerlichen Widerständler zu unverbesserlichen ukrainischen Nationalisten, gegen die sich die ganze Macht des sowjetischen Arbeiter- und Bauernstaates richtete.
Der Widerstand wurde gebrochen, weil die Ukraine alle Ernten für den Export abzuliefern hatte. Das war wohl die durchdachte und gezielte Hunger-Strategie. Neben der wirtschaftlichen Strangulierung brach das Regime und seine willigen Helfershelfer auch über die Kulturpolitik der Ukraine das Rückgrat. Die Kommunisten setzten auf die faschistische Assimilierungspolitik. Die ukrainische Sprache wurde verboten, Russisch galt als einzige Landessprache.
Hunderte von ukrainischen Partei- und Kulturkadern wurden entlassen, verhaftet und ins Exil geschickt, während einige der wichtigsten Förderer der Ukrainisierungspolitik, wie der Volkskommissar für Bildung Mykola Skrypnyk und der führende kommunistische Schriftsteller der Ukraine Mykola Chwylowyj, Selbstmord begingen.
Das KP-Regime plünderte die Ukraine
Die staatlichen Behörden ließen die Speicher der Bauernhöfe und Dörfer restlos plündern, die ihre Quoten nicht erfüllten. Besonders hart betroffen waren die Regionen der Zentralukraine, die sich von der Hungersnot von 1932 noch nicht erholt hatten. Mehr als die Hälfte der geschätzten vier Millionen verhungerten Ukrainer und Ukrainerinnen kamen in Regionender Ukraine ums Leben, die nicht zu den Getreide produzierenden landwirtschaftlichen Kerngebieten des Landes gehörten.
Die bewusst herbei geführte Hungersnot wurde für das Stalin-Regime die Waffe, um die Ukraine vollständig zu unterwerfen. Das Regime dementierte die Vorwürfe, dass in der Ukraine Menschen an Hunger starben. An dieser Interpretation hielt das sowjetische Regime bis zum Zusammenbruch fest.
Holodomor ist gleich Genozid
Nach der Auflösung der Sowjetunion durfte ungestraft die Frage gestellt werden, ob der Holodomor als ein Völkermord an der ukrainischen Nation zu betrachten sei. Raphael Lemkin definierte die ukrainische Hungersnot als Völkermord. Lemkin prägte den Begriff „Völkermord“, „Genozid“. Als solchen erklärte das ukrainische Parlament 2006 den Holodomor. Mehrere Parlamente und Regierungen verabschiedeten ähnliche Resolutionen, während die russische Regierung eine internationale Kampagne gegen die Anerkennung des Holodomor als Genozid startete.
Für Professor Plokhii von der Universität Harvard war die Hungersnot in der Ukraine die Folge einer Politik, die eine unübersehbare ethnonationale Färbung hatte. Diese Politik zielte nicht nur auf die Bauernschaft, sondern auf die neue politische Klasse und die kulturelle Elite ab. Das Regime war nicht nur hinter dem ukrainischen Getreide her, sondern hatte auch die ukrainische Kultur und letztlich die ukrainische Identität selbst im Visier, kommt Professor Plokhii zum Schluss.
Quellen: „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ und Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute
Holodomor: Geschichte und Bedeutung der großen Hungersnot (ukraineverstehen.de)
Holodomor: Ukrainians remember the famine that killed millions in Soviet Ukraine – Bing video
HOLODOMOR THE MOVIE – TRAILER 2010 – Bing video
Bilder von der Grundsteinlegung für das Holocaust-Mahnmal in Odesa (ukraineverstehen.de)
Der Weg der Unsterblichen – ukraineverstehen.de
„Die Geschichte eines Juden in der Sowjetunion“ – ukraineverstehen.de
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