Putin und seine Ängste: Memorial ist Geschichte

Von Wolfgang Mayr

Die russische Justiz hat eine dem Staat unliebsame NGO verboten, weil ausländische Provokateure. Putin will von den Geistern der Vergangenheit verschont bleiben. Er fürchtet sich davor, so wie er vor der Nato angeblich Angst hat und kampfbereite Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren lässt. Ein angstgeplagter Stalin-Nachfolger.

Die Seite dekoder – eine Plattform des russischen und belarusischen unabhängigen Journalismus – stand der Menschenrechtsorganisation Memorial immer offen. Auch deshalb, weil sie die glorizifierte sowjetische Vergangenheit „aufarbeitete“. So zitiert Manuela Putz auf Dekoder die mühevollen Anfänge Mitte der 1980er Jahre, „in der Zeit der Perestroika werden ihre Rufe nach Aufarbeitung der politischen Repressionen, insbesondere unter Stalins Herrschaft, immer lauter. Das Schweigen soll durchbrochen werden und an die Millionen Opfer erinnert werden, die im Arbeitslagersystem Gulag inhaftiert waren, zwangsumgesiedelt wurden und dort den Kält oder Hungertod gestorben sind oder auf dem Höhepunkt des Massenterrors 1937–38 erschossen wurden,“ umreißt Putz die selbstgewählte Aufgabe von Memorial.

Die Arbeit der Organisation unterstützten Zehntausende und damit duch die verbundene Forderung nach einem angemessenen Gedenken. „Eine absolut unglaubliche Euphorie und ein Gefühl, dass sich plötzlich ein Fenster öffnet und frische Luft hereinweht“, eine der Reaktionen auf die „Bewältigung der Vergangenheit“ von unten. Neben den Stalinschen Repressionen dokumentiert das Archiv von Memorial International auch die Geschichte der Dissidentenbewegung nach 1953 sowie das Schicksal von Ostarbeitern. Seine außerordentliche Bedeutung als Russlands unbequemes Gedächtnis ist unbestritten.

Putin und sein Regime trauern der alten Sowjetmacht nach. Die Recherchen von Memorial in der blutigen Vergangenheit nervten die Nachfolger von Lenin, Stalin und Breschnjew im Kreml. Als noch viel ärgerlicher empfand das Putin-Regime die Memorial-Arbeit zum Tschetschenienkrieg und das Engagement gegen die gezielten Menschenrechtsverletzungen in Russland.

Protest aus Deutschland

Den Protest von Memorial Deutschland gegen das Memorial-Verbot unterstützen zwölf weitere Vereine wie die Heinrich-Böll-Stiftung, das Zentrum Liberale Moderne oder das Lew Kopelew-Forum, um nur einige zu nennen. Sie weisen darauf hin, dass auch für die deutsche Geschichtsforschung und Erinnerungspolitik „Memorial als Initiator und Partner bei der Aufarbeitung des Schicksals Hunderttausender „Ostarbeiter/innen“ die entscheidende Rolle gespielt.“

Die zwölf Vereine und Organisationen würdigen Memorial als moralisches Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft. Mit dem Verbot von Memorial gibt der russische Staat ein erschütterndes Selbstzeugnis ab, heißt es in der gemeinsamen Erklärung: „Er bekämpft die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren. Er kriminalisiert die internationale zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit zum Schaden des eigenen Landes. Und er verletzt die Grundwerte der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Russland selbst unterzeichnet hat.“

Die Ermittlungen und den Prozess verurteilen die Unterzeichner als politisch motiviert. Das gegen Memorial angewandte „Agenten“-Gesetz dient ausschließlich der politischen Repression. „Wir fordern die Aufhebung des Agentengesetzes und aller weiteren russischen Gesetze, die jede Form internationaler zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit mitunabhängigen russischen Partner/innen unmöglich machen sollen.“

Die unterzeichnenden Organisationen bedauern, dass mit dem Verbot von Memorial eine Insel des freien Denkens und eine der letzten Bas­tio­nen der demo­kra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft liqui­diert wurde. Ohne politische Weisung von oben ist ein solches Vorgehen und ein solches Urteil undenk­bar, kritisieren die Organisationen das Putin-Regime.

„Gleich­zei­tig wurde die Website von OWD Info gesperrt, einer popu­lä­ren Platt­form zur Infor­ma­tion über Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und poli­ti­sche Repres­sion in Russ­land. Auto­ri­täre Gleich­schal­tung nach innen und eine aggres­sive Politik nach außen gehen Hand in Hand.“

Es braucht jetzt eine gründ­li­che Bewer­tung der Aus­wir­kun­gen des Urteils gegen Memo­rial auf die deutsch-rus­­si­­schen Bezie­hun­gen durch die Bun­des­re­gie­rung und die EU. Die Bun­des­re­gie­rung und die Euro­päi­sche Union fordern die Partner-Organisationen von Memorial auf, „alles in ihren Mög­lich­kei­ten Ste­hende zum Erhalt der Arbeit und des Archivs von Memo­rial und zum Schutz seiner Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter zu tun.“

Weitere Informationen:

Memorial | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung

Liquidierung des Gedenkens | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung

Die Geister der Vergangenheit | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung

Andrej Sacharow | Anders sein – Dissens in der Sowjetunion | дekoder (dekoder.org)

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