Leipziger Buchpreis: Die sterbenden Europäer und die Hundeesser aus Svinia. Karl-Markus Gauß lernt uns das Staunen über Europa

Von Jan Diedrichsen

Wer sich für die Minderheitenvielfalt und den Schutz der bedrohten Völker weltweit einsetzt, vergisst manchmal den Blick, der so naheliegend ist: den Blick auf Europa. Dabei erleben wir seit Jahren ein dramatisches Kultur- und Sprachensterben. Und auch das Elend der bedrohten Minderheiten existiert bei uns, in Europa – meist jedoch unter dem Radar der Öffentlichkeit, im Verborgenen. Karl-Markus Gauß wirft mit seinen Büchern ein Schlaglicht auf diese bedrohte europäische Vielfalt und auch auf das versteckte Elend unseres Kontinents.

Karl-Markus Gauß ist der diesjährige Preisträger des Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.

Gauß, ein reisender Schriftsteller, denkt schreibend über europäische Minderheiten nach, über die Bewohner der Zips, der Region im Osten der Slowakei, ebenso über die Roma und die chaldäischen Christen in der syrisch-orthodoxen Kirche. „Alle diese Minderheiten mit ihren seltsamen Sitten, Sprachen, Gebräuchen, Literaturen und Religionen haben in Karl-Markus Gauß, der selbst aus einer donauschwäbischen Familie stammt, ihren unermüdlichen, treuen, neugierigen, aufmerksamen Chronisten gefunden“, hieß es in der Begründung der Jury.

In seinem 2001 erschienen Buch „Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arabereshe und den Sepharden von Sarajewo“ berichtetet er von seiner Reise in fünf Regionen Europas, in denen die Nachfahren von vertriebenen oder geflohenen Volksgruppen leben: sephardische Juden in Sarajewo, Sorben im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien, Gottscheer im slowenisch-kroatischen Grenzgebiet, Albaner in Kalabrien und Aromunen in Mazedonien. Die Reiseberichte von Gauß prägen einen ganz eigenen Stil. In einer Reportage, kombiniert mit Interviews, setzt er eine Collage aus politischer und historischer Analyse, mit kulturellen Reflexionen sowie soziologischen Betrachtungen zusammen.

2004 veröffentlicht Gauß mit dem bewegenden Buch „Die Hundeesser von Svinia“ ein Porträt der „Unberührbaren“ in Europa. Svinia, ein Ort im Osten der Slowakei und ein Ort, wie aus der Zeit und der Welt gefallen, schildert er aus eigenem Anschauen heraus. Dort leben die Ausgestoßenen unter den ärmsten der Europäer, Roma, die so lange umgesiedelt, verfolgt, missachtet wurden, bis sie ihre eigene Geschichte vergaßen. Die 700 in Svinia lebenden Menschen werden selbst von den anderen Roma verachtet, weil sie als Degesi, als „Hundeesser“, gelten und eine Kaste der Unberührbaren bilden.

In seinem jüngsten, im Oktober 2020 erschienenen Buch „Die unaufhörliche Wanderung: Reportagen“ schreibt Gauß unermüdlich über die Sitten, Sprachen, Gebräuche, Literaturen und Religionen europäischer Minderheiten.

Der Buchpreis soll zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 16. März 2022 im Gewandhaus verliehen werden. Die Messe hatte in der vergangenen Woche mitgeteilt, dass sie nach zwei Absagen in Folge an ihrem Termin im kommenden März festhalten wolle.

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