IM SCHATTEN DER GROSSMÄCHTE

Vor den Augen der USA und Russlands führt die Türkei Krieg in Syrien und im Irak.

Und was macht die Nato? Sie sucht nach ihrem Gipfel wieder die Nähe zur Türkei. Trotz der autoritären Politik des Präsidenten Erdogans, trotz Verfolgung der demokratischen Opposition, nicht-türkischer Nationalitäten und der Frauen, trotz seines Krieges in Syrien und in Irak gegen kurdische Milizen.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hatte anlässlich des Nato-Gipfels in Brüssel an US-Präsidenten Joe Biden appelliert, sich bei seinem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan für die verschiedenen Minderheiten einzusetzen. Die türkische Armee und mit ihr verbündete islamistische Milizen haben im nord-syrischen Afrin bereits hunderttausende Menschen vertrieben. Die türkische Luftwaffe bombardiert regelmäßig kurdische Siedlungen auch im Irak. Meist sind die Opfer Kinder.

Während die Angriffe der Türkei auf Afrin unter den Augen der russischen Armee, die den Luftraum dort kontrolliert, geschehen sind, setzte sie zeitgleich ihre Angriffe auf Kurden, Christen und Yeziden im Nordosten als auch im Norden von Irak unter den Augen des US-Militärs, das den Luftraum kontrolliert und auf dem Boden anwesend ist, fort.

Die GfbV bat Präsident Biden, auf Erdogan einzuwirken, damit dieser die Gewalt des türkischen Militärs beendet. „Die Veränderung der demografischen Struktur Nordsyriens, die Erdogan anstrebt, ist nun fast vollzogen. In den ehemals multi-ethnischen und multi-religiösen Gebieten leben fast nur noch sunnitische Araber, die Erdogan dort ansiedeln ließ“, sagt Sido. „Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die westliche Welt und allen voran die USA dürfen das nicht akzeptieren.“ Stattdessen müssten sie darauf drängen, dass die Türkei die Rückführung der kurdischen, yezidischen, christlichen und alevitischen Vertriebenen unter internationaler ziviler Beobachtung erlaubt.

Von Kamal Sido

Am 15. April 2021 wurde der Flughafen der kurdischen Hauptstadt Erbil mit einer Drohne angegriffen. Zu dem Drohnenangriff bekannte sich zunächst niemand. Allerdings begrüßte die proiranische Miliz Aulijaa al-Dam (Wächter des Blutes), die bereits einen ähnlichen Angriff auf den Flughafen im Februar 2021 für sich reklamiert hatte, die Attacke.

Zeitgleich griffen die Türkei und ihre syrisch-sunnitischen Söldner mit Artillerie die von Kurden angeführten Syrian Democratic Forces (SDF) im Norden von Aleppo an. Dort fanden hunderttausende vertriebene Kurden nach der völkerrechtswidrigen Besetzung Afrins im März 2018 Zuflucht.

Bereits in der Vergangenheit gab es diverse Angriffe auf Kurden: Als Rache für die Angriffe auf iranische Atomanlagen hetzte der Iran schiitische Milizen gegen Kurden im Irak. Infolgedessen hat Irakisch-Kurdistan 2017 nahezu ein Drittel seines Territoriums an die irakische Armee und schiitische Milizen verloren. Der Iran beschuldigt die Kurden im Irak „anti-iranische zionistisch-amerikanische Aggressionen“ zu unterstützen. Gleichzeitig macht der Iran Israel für die Sabotageakte auf seine Nuklearanlagen verantwortlich. Also müssen die Kurden bestraft werden.

Die syrischen Kurden hingegen werden von Russland bestraft, weil sie mit den USA kooperieren. Russland – als Schutzmacht des syrischen Regimes – erlaubt der Türkei den syrischen Luftraum zu benutzen, um Kurden aus der Luft anzugreifen. Die Kurden haben keine Chance gegen die türkische Luftwaffe. In Syrien kooperieren Russland und der Iran sehr eng mit der Türkei, auch gegen die von Kurden angeführten Syrian Democratic Forces (SDF).

Kurden im Irak und in Syrien werden also bestraft, weil sie mit den USA kooperieren und weil sie „westliche“ Werte wie Demokratie, Minderheitenrechte, Frauenrechte und Glaubensfreiheit verteidigen. Was machen die USA? Sie lassen irakische Kurden und andere Minderheiten vom Iran angreifen. Vor allem der Türkei wird erlaubt, mit diesen Minderheiten in Syrien zu machen, was sie will. Sie werden vertrieben oder – wie im Falle Afrins – abgeschlachtet.

Sind die Islamisten wieder NATO-Verbündete?

Das, was gerade in Afghanistan geschieht, sollte man in diesem Zusammenhang betrachten: In Afghanistan werden Menschen, insbesondere Frauen, der Taliban-Tyrannei überlassen. Auch wenn die deutsche Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagt, dass die NATO ihre wichtigen Ziele in Afghanistan erreicht hätte, ist die Realität eine andere. Der britisch-pakistanische Journalist und Buchautor Ahmed Rashid schreibt, dass „sich die Taliban auf keinerlei Einigung auf Frieden oder Waffenstillstand einlassen werden […] die Taliban haben niemals irgendetwas zugesagt. Die Amerikaner haben alle Zugeständnisse gemacht. Sie haben den afghanischen Präsidenten Ghani zu Zugeständnissen aufgefordert. Wir haben aber nichts Positives vonseiten der Taliban gesehen.“

Vor diesem Hintergrund erscheint es so, als würde der Abzug der USA und der NATO aus Afghanistan mit anderen Faktoren zusammenhängen. Anscheinend gibt es in der NATO Strategen, die die Meinung vertreten, mit Hilfe der Türkei könnten die Taliban und alle sunnitischen Islamisten auf Russland und China losgelassen werden. Die aktive Rolle des arabischen Emirats Katar bei den Vermittlungen zwischen den Taliban und den USA, steht auch im Kontext der neuen Einstufung der islamistischen Muslimbruderschaft – dessen Hauptunterstützer das arabische Emirat Katar ist – durch die NATO. Die Verlegung des Verhandlungsortes zwischen den Taliban und den USA von Katar nach Istanbul ist ein weiteres Indiz dafür, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Abzug der NATO aus Afghanistan und der neuen Bewertung der islamistischen Gruppe besteht. Denn die Türkei unter Erdogan kontrolliert die wichtigsten sunnitisch islamistischen Parteien, Organisationen und bewaffnete Gruppen weltweit in enger Kooperation mit Katar. Als Gegenleistung dafür, dass die Türkei die Islamisten im Sinne der NATO kontrolliert, erhält die Türkei freie Hand im Krieg gegen Kurden und andere Minderheiten innerhalb und außerhalb der Türkei.

Was die Taliban angeht, sie dürfen mit Frauen in Afghanistan machen, was sie wollen. Auch die Haltung Erdogans in der Frauenfrage scheint die NATO nicht sonderlich zu interessieren. Die bekannteste afghanische Frauenaktivistin Belqis Roshan warnt immer wieder vor einer unheiligen Allianz zwischen Erdogan und allen möglichen radikal-islamistischen Gruppen, die die Einführung des islamischen Scharia-Rechts, in dem Frauenrechte keinen Platz haben, überall einführen wollen.

Nach dem Willen der oben erwähnten NATO-Strategen soll die „Hauptbeschäftigung“ der Islamisten nur noch darin bestehen, Russland und China zu bekämpfen. Die Religion des Islam soll erneut, wie schon oft in der Geschichte als „Waffe“ gegen den politischen Gegner instrumentalisiert werden. Aus diesem Grund scheinen die geopolitischen Rolle der sunnitischen Islamisten wichtiger als das Schicksal der Kurden und Frauen.

Ob die Türkei als sunnitisch-islamische Regionalmacht riskieren wird, gegen Russland und China vorzugehen, bleibt abzuwarten. Die sunnitischen Islamisten von heute sind nicht dieselben wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Auch China wird heutzutage von anderen, von turbokapitalistischen Kommunisten, regiert. Nicht Karl Marx, sondern Konfuzius ist das Idol.

Auch in Russland ist die Situation eine andere. Die Macht dort stützt sich nicht mehr auf Marx oder Lenin, sondern auf die russische Orthodoxie. Außerdem hat Russland die besten Beziehungen zu Israel. Es wird also nicht einfach sein, Muslime, in diesem Fall Sunniten, gegen die Russen und Chinesen in Stellung zu bringen. Im Kalten Krieg gab es keine sozialen Netzwerke, die für alle Schichten der Bevölkerung zugänglich waren. Damals war es leichter, den Moslems zu erzählen, dass die Russen und Chinesen „ungläubige Atheisten“ seien und dass „alle Kommunisten für Israel arbeiten“ würden, denn Marx war Jude. Von dieser, in der arabisch-islamischen Welt weitverbreiteten These, habe ich noch als junger Mann in Aleppo Anfang der 1970er viel gehört.

Auch im Falle des Irans, der selbsterklärten Schutzmacht aller Schiiten, wird es nicht einfach sein, die sunnitischen Islamisten gegen die verhassten schiitischen Mullahs zu mobilisieren. Die Türkei, die sich wiederum als eine Schutzmacht der Sunniten versteht, hatte schon immer viele gemeinsame Interessen mit dem Iran und vor allem einen gemeinsamen Feind: die Kurden. Daher wird es für die USA und den Westen nahezu unmöglich sein, die Türkei und die sunnitischen Islamisten auf Dauer gegen den Iran aufzubringen. Auch der Iran hat gute Beziehungen, nicht nur zur Hamas, sondern zu verschiedenen anderen sunnitischen Gruppen.

Daher wird jegliche NATO-Strategie, die darauf abzielt, die radikalen sunnitischen Islamisten unter der Führung der Türkei für sich zu gewinnen, scheitern und katastrophale Folgen haben. Die Türkei wird sich viel mehr an Russland und China orientieren und sehr eng mit dem Iran kooperieren. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen durch die Regierungen in Russland und China dürfen nicht relativiert oder verharmlost werden. Dennoch gehen viele Gefahren für den Weltfrieden und die Menschen in den westlichen Städten auch von der islamischen Welt, von einem radikalen politischen Islam sunnitischer und schiitischer Prägung aus, dessen Schaltzentralen sich in Istanbul und in Teheran befinden. Die Hauptquellen des antiwestlichen Gedankenguts, des Antisemitismus und der Frauenfeindlichkeit sind heute in erster Linie nicht in Moskau oder Schanghai, sondern in Istanbul, Teheran oder Islamabad zu finden.

Die Türkei kann nur dann als Bollwerk gegen China oder Russland eingesetzt werden, wenn sie ihre ewige Feindschaft mit den Kurden beendet, und zwar nicht nur mit einer kurdischen Gruppe, sondern mit allen Kurden – einschließlich der PKK. Die Türkei kann nur dann als beständiger Global Player auftreten, wenn sie weder verwundbar noch erpressbar ist. Einer Türkei, die an allen Ecken und Enden durch „Kurdenproblemen“ gefesselt ist, wird es kaum gelingen, ein Stabilitätsfaktor zu werden. Daher wird die Türkei den Zickzackkurs zwischen Russland, China und dem Iran einerseits und dem Westen andererseits fortsetzen. Im entscheidenden Moment wird die Türkei jedoch nicht an der Seite des Westens in den Krieg ziehen.

Kamal Sido ist GfbV-Referent für ethnische, religiöse, sprachliche Minderheiten und Nationalitäten.

Die längere deutsche Version dieser Analyse wurde im Onlinemagazin „Telepolis“ veröffentlicht.

Eine kurze Version wurde in englischer Sprache in der israelischen Tageszeitung „Jerusalem Post“ abgedruckt.

Opfer

Nach Quellen der GfbV und Schätzungen von weiteren Fachleuten sind während des Bürgerkrieges, der IS-Angriffe sowie der türkischen Militärinvasionen mehr als 1,5 Millionen Kurden und Angehörige der yezidischen und christlichen Religionsgemeinschaften auf der Flucht: Aus Afrin, im Nordwesten Syriens, wurden 350.000 Personen vertrieben, aus Ras Al Ain und Umgebung weitere 300.000 und aus anderen Gebieten Syriens 350.000. Viele von ihnen mussten schon in den ersten Kriegsjahren innerhalb Syriens oder in Nachbarländer fliehen.
Islamisten sind wichtiger als Kurden und Frauen.

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