Friedensschluss oder Diktat?

Am 28. und 29. Februar 2024 trafen sich in der Berliner Borsig-Villa die Außenminister Armeniens und Aserbaidschans zu „Friedensgesprächen“. Das Treffen war ein Nebenergebnis der Münchener Sicherheitskonferenz, bei dem Kanzler Scholz die Bundesregierung als Vermittlerin zwischen beiden Staaten ins Spiel brachte. 

Stepanakert: Siegesparade der Aserbaidschaner

Von Tessa Hofmann

Aserbaidschan verhandelt aus der Position des militärisch, geopolitisch und wirtschaftlich weit überlegeneren Siegers, der sich mit europäischer Duldung erlaubt, dem kleineren Nachbarland immer neue Bedingungen auf dem langen Weg zu einem Friedensabkommen zu stellen. So verlangt es nicht nur eine Neufestlegung der gemeinsamen Landesgrenzen und einen unter seiner Kontrolle stehenden Korridor durch „Sangesur“, also die südöstliche armenische Provinz Sjunik, um Aserbaidschan mit seiner Exklave Nachitschewan und darüber hinaus mit seinem „Bruderland“ Türkei zu verbinden. Es verlangt inzwischen auch, dass Armenien seiner Verfassung ändert. Diese beruft sich auf die Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1991, in der die Vereinigung von Arzach und der Republik Armenien sowie die Anerkennung des osmanischen Genozids an 1,5 Millionen Armeniern (1915/16) als Staatsziele festgelegt wurden. 

Die Forderung nach dem „Sangesur-Korridor“ erhebt Aserbaidschan unter Berufung auf das trilaterale Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020, das auf Initiative Russlands den Zweiten Karabachkrieg beendete, bevor die aserbaidschanischen Streitkräfte die Hauptstadt der De Facto-Republik Arzach einnehmen konnten. Der Text des Abkommens gibt allerdings eine solche Interpretation zur Abtretung der Kontrolle des Korridors an Aserbaidschan nicht her. Vielmehr heißt es darin ausdrücklich:

„Alle Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen in der Region werden freigegeben. Die Republik Armenien gewährleistet die Sicherheit der Verkehrsverbindungen zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan, um den ungehinderten Verkehr von Personen, Fahrzeugen und Gütern in beiden Richtungen zu ermöglichen. Der Grenzschutzdienst des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes ist für die Überwachung der Verkehrsverbindungen zuständig.“

Nachverhandlungen bzw. weitere Präzisierungen des Abkommens gab es nicht. Die Regierung unter Nikol Paschinjan hat  seither immer wieder erklärt, die Kontrolle über Verkehrswege im armenischen Hoheitsgebiet nicht abzutreten. Sie wolle keinen „Sangesur-Korridor“, sondern „Kreuzungen des Friedens“ („Crossroads of Peace“). 

Auch das Berliner Treffen zwischen Ararat Mirsojan und seinem aserbaidschanischen Kollegen änderte an dieser Position nichts. Wie viele voraussagten, verlief es ohne konkrete Ergebnisse, obwohl doch angeblich die Voraussetzungen für einen Friedensschluss nach „Expertenmeinung“ günstiger denn je seien.

Genozidale Vertreibung als „effektive Konfliktlösung“?

Zu diesen Experten zählen auch die Kommentatoren der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung. Dort wurde die genozidale Vertreibung von ca. 100.800 Arzachern in der zweiten Septemberhälfte 2023 als „effektive Lösung“ beschrieben. Wie bitte?

Neun Monate aserbaidschanischer Hungerblockade, gefolgt von einem völkerrechtswidrigen Militärangriff und der vor allem in ländlichen Gebieten besonders brutalen Vertreibung der Bevölkerung in die Republik Armenien stellen eine „effektive Lösung“ dar? Als Menschenrechtlerin fasse ich mir an den Kopf. 

Keine völkerrechtliche bzw. strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen des Alijew-Regimes durch den Internationalen Strafgerichtshof? Keine Wiederherstellung des Heimatrechts der Vertriebenen? Keine Entschädigung für ihr Hab und Gut? Keine Möglichkeit einer Rückkehr in Sicherheit und Selbstbestimmung? Keine EU-Sanktionen gegen den „zuverlässigen Energiepartner“ Aserbaidschan? Nicht einmal eine gemeinsame Erklärung der EU-Mitgliedsstaaten? Noch nie schien die Universalität der Menschenrechte fraglicher als gegenwärtig. Hier Kosovo (von der EU gewollt), dort die De Facto-Republik Arzach (von der EU geopfert). Und die Vereinten Nationen zu geschwächt und gespalten, um daran etwas zu bessern.

Die Schuldfrage

Nachdem die Menschen in Armenien und seiner Diaspora aus der Schockstarre erwachen, stellen sie sich die Schuldfrage. Der Mehrheitsmeinung sieht in Russland den Hauptschuldigen für den Verlust Arzachs. Man glaubt unter anderem, dass Russland das zunehmend prowestlichere Armenien durch seine Untätigkeit habe strafen wollen.

Doch der Waffenstillstandsvertrag von 2020 umfasst nicht die genauen Aufgaben des knapp 2.000 Mann starken russischen Friedenskontingents. Russland verstand, vor allem nach Beginn seines Angriffs auf die Ukraine, seine Aufgabe in Arzach vor allem als Beobachter. Beobachten jedoch heißt nicht schützen. Russland besaß kein internationales Schutzmandat. Und griff entsprechend nicht ein, als die Hungerblockade verhängt und die Arzacher Bevölkerung vertrieben wurde.

Die Fixierung auf Russland als den Haupt- oder sogar einzig Schuldigen verhindert den selbstkritischen Blick auf die armenische Rolle sowie auf die europäische Verantwortung.

Die postsowjetische Republik Armenien hat es nie gewagt, Arzach als Staat anzuerkennen, geschweige denn, es in seinen Bestand aufzunehmen. So blieb der Status von Arzach prekär. Die „Minsker Gruppe“ der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schaltete sich 1992 in den Konflikt ein. Aber auch ihr gelang es im Verlauf von 16 Jahren nicht, einen Friedensschluss zwischen Arzach und Aserbaidschan zu vermitteln. Dabei verhandelte Armenien stellvertretend für Arzach, das als gleichberechtigter beziehungsweise primärer Konfliktbeteiligter auf Vorschlag Armeniens im Herbst 1997 aus den direkten Verhandlungen ausgeschlossen wurde – ein verhängnisvoller Fehler. 

Seit 2004 treibt Aserbaidschan Armenien in einen Rüstungswettlauf, den das kleinere und weit ärmere Land nicht gewinnen kann. Schon im Frühjahr 2016, im Juli 2020 und im September 2022 griff Aserbaidschan auch die Republik Armenien an. Drei Wochen nach dem Angriff vom September 2022, am 6. Oktober 2022, unterzeichnete Paschinjan – auf Vermittlung oder eher wohl auf Druck des EU-Ratspräsidenten Charles Michel – die Prager Erklärung, mit der Paschinjan die „territoriale Integrität“ Aserbaidschans einschließlich Arzachs anerkannte. Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Republik Arzach, Artak Beglarjan, äußerte: „Paschinjan sagte in einer Rede Ende Dezember 2023, er habe von der EU bestimmte Sicherheitsgarantien erhalten. Und zwar nicht erst jetzt, sondern auch im Oktober 2022 nach dem Angriff auf Dschermuk und die Regionen Gegharkunik und Sjunik. Konsequenz war – die EU-Beobachterkommission in Armenien! Armenien stand unter Druck von beiden Seiten: der EU und Russlands. Beide haben die Ängste der armenischen Regierung ausgenutzt, indem sie auf die Bedrohung durch die aserbaidschanische Seite verwiesen. Und Paschinjan durfte – klar! – keinen neuen Konflikt mit Aserbaidschan anfangen. Einerseits wollte man das Territorium Armeniens beschützen, aber in den Verhandlungen mit Aserbaidschan auch die Rechte der Arzach-Armenier einschließen. Aber das funktionierte nicht. 

Wir fühlen uns im Stich gelassen! Armenien hatte 30 Jahre lang Verpflichtungen gegen-über Arzach und hat sie dann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr erfüllt und die Hilfe gecancelt. Mehr noch: Die Interessen der Arzach-Armenier wurden ins große Spiel gebracht und den Interessen Armeniens auf territoriale Integrität geopfert.“

Noch 2019 hatte Paschinjan bei seinem ersten Besuch in der Arzacher Hauptstadt Stepana-kert ganz anders geklungen: „Arzach ist Armenien! Basta!“ Von diesem Überschwang ist nichts geblieben. Paschinjan hat Arzach geopfert, in der Hoffnung, wenigstens der Repub-lik Armenien den Frieden zu bewahren. Er vergisst dabei, dass der Landhunger Aserbaid-schans auf Gebiete, die es als historisch aserbaidschanisch bzw. als „Westaserbaidschan“ deklariert, ungestillt ist. Dazu gehört vor allem die armenische Provinz Sjunik, die Aserbaidschan zuletzt am 13. Februar 2024 angegriffen hat; vier Armenier starben, einer wurde verwundet. 

Auch N. Paschinjan geht inzwischen davon aus, dass ein weiterer Angriff Aserbaidschans „höchst wahrscheinlich“ sei. Es hat inzwischen oft genug getestet, dass seine Militärangriffe international geduldet werden. Aserbaidschan gilt als Energieproduzent und internationaler Umschlagplatz von Rohstoffen als zu wichtig, um es zu verärgern oder gar in Russland in die Arme zu treiben. Dieser Schlüsselposition zwischen dem Westen und seinen Gegnern Russland und Iran ist sich Aserbaidschan sehr bewusst und nutzt seinen daraus abgeleiteten weiten Handlungsspielraum.  

Der Sprecher des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums, Oberst Ramiz Melikov, hatte bereits 2004 erklärt: „In den nächsten 25-30 Jahren wird es keinen armenischen Staat im Südkaukasus geben. Diese Nation ist ein Ärgernis für ihre Nachbarn und hat kein Recht, in dieser Region zu leben. Das heutige Armenien wurde auf historischem aserbaidschanischem Boden errichtet. Ich glaube, dass diese Gebiete in 25-30 Jahren wieder unter aserbaidschanische Gerichtsbarkeit fallen werden.“ 

Bodenschätze

Am 6. März läuft in der ARD der Spielfilm „Am Abgrund“. Er schildert vor dem Hintergrund realer Vorkommnisse die von Aserbaidschan erfolgreich betriebene Bestechung europäischer Politiker, darunter zahlreicher Deutscher. Zugleich interpretiert der Film die Duldung aserbaidschanischer Verbrechen und des totalitären Alijew-Regimes als europäische Wirtschaftsinteressen: Gemeinsam mit Aserbaidschan werden künftig europäische Firmen die Bodenschätze Arzachs/Karabachs ausbeuten. 

Schon Ende Juli 2020, also drei Monate, bevor Aserbaidschan die Republik Arzach angriff, äußerte Samir Gurbanov, Vorsitzender des Exekutivrates der Agentur für das Mineralressourcenmanagement Aserbaidschans: „Nach offiziellen Angaben gibt es in den von Armenien besetzten aserbaidschanischen Gebieten 163 Lagerstätten, darunter zahlreiche Mineralquellen und Ablagerungen von Zink, Gold, Kohle, Kupfer, Silber, Blei, Gold, Marmor, Kalkstein, Chrom und Eisen. Die meisten Bodenschätze Aserbaidschans befinden sich in den heute von Armenien besetzten Gebieten. Die Gold-, Silber-, Kupfer-, Molybdän-, Quecksilbervorkommen in den Regionen Kälbädschär, Latschin, Tärtär, Aghdam, die Eisen- und Chromvorkommen in den Bezirken Dschäbrajil, Kälbädschär und Latschin sowie die Schwefelvorkommen in den Distrikten Tärtär, Kälbädschär, Aghdam und Fisuli werden derzeit von Armenien erschlossen. Außerdem werden hier Ablagerungen von Kies, Sand, Ton und anderen Mineralquellen geschürft und gefördert.“

Da sich dank der „effektiven Lösung“, d.h. der Vertreibung der Armenier aus Arzach, nun auch diese einst armenische Region unter vollständiger Kontrolle Aserbaidschans befindet, steht einem aserbaidschanischen Abbau der dortigen Bodenschätze nichts mehr im Wege. Und wenn Europa „artig“ ist und sich weiterhin nicht einmischt, darf es am Gewinn teilhaben.

Schon jetzt werden materielle Zeugnisse, die an die einstige dreitausendjährige Präsenz der Armenier erinnern, gezielt zerstört. So wie einst in der armenischen Region Nachitschewan zerstören und entweihen gegenwärtig aserbaidschanische Streitkräfte armenische Friedhöfe in Arzach und prahlen in Videos in den „sozialen“ Medien über ihre Taten: https://www.facebook.com/742175940/videos/pcb.10159941816700941/602361481512627

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