07-12-2023
Estland
Die NGO „Russian School of Estonia“ beklagt die Assimlierung der russischen Bevölkerung
Von Wolfgang Mayr
„Ich glaube nicht, dass das Glück zu denen ins Haus kommt, die eine solche Politik verfolgen“, zitierte die Tageszeitung „Die Welt“ den russischen Kriegspräsidenten Putin. Wer Teile seiner Bevölkerung – so wörtlich – „schweinisch“ behandele, brauche sich nicht zu wundern, wenn sich dies gegen einen selbst kehre. Unverhüllter kann eine militärische Drohung gar nicht sein. Putin bezog sich auf die Lage der russischen Bevölkerung in Lettland.
Ähnlich „schweinisch“ behandelt fühlen sich „die“ Russen Estlands. So kritisiert die NGO Russian School of Estonia die Abschaffung [1] des russischsprachigen und den Übergang zum einsprachigen estnischen Unterricht [2] an allen Schulen. Und zwar ab dem nächsten Jahr. Das entsprechende Gesetz verabschiedete das estnische Parlament bereits vor einem Jahr.
Die russische NGO Russian School of Estonia sieht darin den ultimativen Akt, die russische Bevölkerung zu zwangsassimilieren. Das Gesetz verletze die Rechte auf Sprache, Kultur und Identität von 20% der estnischen Bürger russischer Herkunft und von weiteren 10% der russischsprachigen Bevölkerung, die keine estnische Staatsbürgerschaft besitzen. Außerdem verstoße das Gesetz gegen den EU-Vertrag sowie gegen das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates.
Estland verletze auch den Gründungsakt seiner Selbständigkeit von 1991. Damals anerkannte die unabhängig gewordene Sowjetrepublik russisch als Muttersprache estnischer Bürger an sowie das Recht auf Russischunterricht. Die Föderalistische Union europäischer Nationalitäten Fuen wirft Estland vor, seit 30 Jahren die Sprachenrechte der russischsprachigen Bevölkerung kontinuierlich einzuschränken und seit Ende der 1990er Jahre die Integration zu forcieren, dh die Assimilierung. Diese Politik kritisiert die Fuen als eine schwerwiegende Verletzung europäischer Werte.
Besonders die Reformen im Bildungsbereich kollidierten mit den EU-Werten wie Toleranz und Achtung der Vielfalt und stellten die Mehrsprachigkeit grundlegend in Frage. Immerhin auch gerichtet gegen die EU-Sprachpolitik der „Muttersprache plus zwei“. Damit gefährdet laut Fuen die estnische Politik den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Prinzip der Chancengleichheit.
Fragwürdiges Schulgesetz
Das vor einem Jahr genehmigte Gesetz sieht vor, dass der ethnischsprachige Unterricht an den zweisprachigen Schulenschrittweise auf 40 und letztendlich auf 75 Prozent erhöht wird. Die NGO „Russian School of Estonia“ sieht darin das Ende des russischsprachigen Unterrichts. Damit werde die Schule zum wesentlichen Element der Assimilierung.
In den russischen Siedlungsgebieten drohe die Schließung kleiner Schulen, damit werde der Zugang zur Bildung erschwert, die Kritik der NGO und der Fuen. Beide werfen der estnischen Regierung vor, russischsprachige Bürgerinnen und Bürger zur Abwanderung in größere Städte zu motivieren. Dort seien die russischsprachigen Familien gezwungen, ihre Kinder zum zweisprachigen Unterricht anzumelden. Im Gegensatz dazu sind im russischen Siedlungsgebiet die Schulen alle zweisprachig, funktionieren ohne Anmeldung. In den Dörfern Ämari, Keila und Kallaste seien die Schulen bereits geschlossen worden, in Kiviõli werde die Estnisierung der großen zweisprachigen Schule vorangetrieben.
Die Fuen fasst die Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Die Schüler wurden automatisch in lokale estnische Schulen versetzt, mit dem Versprechen, dass dort bis zu ihrem Abschluss Unterricht in russischer Sprache angeboten würde. In vielen Fällen wurde eine solche Möglichkeit nicht angeboten. Für Erstklässler aus russischsprachigen Gemeinden war eine solche Option jedoch nicht vorgesehen, und sie wurden nur in estnischen Klassen eingeschrieben. Wie die NGO Russian Schools berichtet, beschlossen einige Familien daher, von Keila nach Tallinn zu ziehen, wo die Schulen immer noch Russisch oder zweisprachigen Unterricht anbieten.“
In Estland leben 300.000 Personen, deren Muttersprache Russisch ist. Viele Esten empfinden sie als „Besatzer“ und „Kinder von Besatzern“ oder als „sowjetische Kolonialisten“. Vor der sowjetische Besetzung Estlands 1940 stellten die Russen acht Prozent der Bevölkerung, heute an die 23 Prozent.
Die sowjetische Teilrepublik Estland, die Spitze meist russisch dominiert, holte Arbeiter und die Angehörigen der Soldaten der Roten Armee ins Land, um die ethnische Geschlossenheit aufzuweichen. Estland trägt, die die Nachbarn Litauen und Lettland auch, die Folgen der sowjetischen Herrschaft.
Putin profitiert
Die russischsprachige Bevölkerung ist also keine klassische alteingesessene nationale Minderheit. Trotzdem, für das Zusammenleben von Esten und Russen ist das neue Schulgesetz nicht angetan, sondern kontraproduktiv. Davon profitieren wird letztendlich das Putin-Regime, das sich als Schutzmacht der Russen außerhalb Russlands definiert, in Estland, Lettland, Litauen, Ukraine, Moldau, Georgien und in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Putin und sein Russland werden sich auch nicht schwertun, anderswo in Europa zu schützende Russen ausfindig zu machen. In Berlin beispielsweise.
Das estnische Misstrauen gegenüber den eigenen Russen ist also nachvollziehbar. Befeuert wird die Ablehnung auch durch die Zustimmung zum Ukrainer-Krieg unter der russischsprachigen Bevölkerung. Manche definieren ihre Wohngebiete gar als „Volksrepubliken“ in Solidarität mit den „Volksrepubliken“ in der russisch besetzten Ostukraine. Estland – genauso Lettland und Litauen – tabtaber in die Putin-Falle, wenn die eigenen Russen kollektiv zu Feinden erklärt werden. Denn, es gibt genügend russischsprachige Esten, die Putin, sein Russland und den Eroberungskrieg in der Ukraine ablehnen.Eben, estnische Russen oder russische Esten.
Es bleibt eine Farce, wenn Putin für seine angeblichen Landesleute Minderheitenrechte einfordert. In Russland gelten keine Minderheitenrechte. Gab es nie, Russland zwangsassimilierte tatsächlich die meisten nicht-russischen Bevölkerungsgruppen.
Estland täte gut daran, die zweisprachigen Schulen nicht anzutasten.
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