Kein Schutz mehr

Russland hat das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates aufgekündigt.

Von Tjan Zaotschnaja und Wolfgang Mayr

Russland hat sich mit seinem Krieg gegen die Ukraine aus der europäischen Sicherheitsarchitektur verabschiedet. Die russischen Kriegsverbrechen sind eine unmissverständliche Absage an das vielbeschworene gemeinsame europäische Haus.

Die radikale Distanzierung geht weiter. Russland schert aus dem Rahmenabkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten aus. Unterzeichnet im Februar 1996 in Straßburg. Russland manifestiert damit eindeutig seine Ablehnung völkerrechtlicher Normen, sagt die russische Juristin, Menschenrechtlerin, Dichterin und Literturkritikerin Nadezhda Nizovkina.

Wie schon 2020, damals wurde aus der Verfassung der Grundsatz entfernt, dass das Völkerrecht einen Vorrang genieße. Mit dem nächsten Schritt zog sich Russland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EGMR) zurück. Bürgerinnen und Bürger konnten russische Gerichtsurteile nicht mehr beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anfechten. Russland begründete den Rückzug mit der angeblichen unerträglichen ausländischen Bevormundung. So ähnlich klingen die spanischen Vox-Faschisten, die italienische Lega, das illiberale Polen und Ungarn. Seit der Parlamentswahl auch die Slowakei.

Es ist deshalb keineswegs verwunderlich, sondern nur konsequent, wenn Russland das Minderheiten-Abkommen aufkündigt. Dieses europäische Instrument zugunsten der Minderheiten ist letztendlich ein dürftiges, äußerst schwaches Schutzinstrument. Es sieht keine verpflichtenden Maßnahmen zum Schutz der Minderheiten vor. Die einzige Vorgabe besteht darin, dem Europarat alle fünf Jahre über den Stand der Minderheitenrechte und über die Einhaltung des genannten Rahmenübereinkommens zu informieren.
Mit der einseitigen russischen Aufkündigung des Rahmenabkommens erkennt Russland diesen internationalen Vertrag und seine halbherzigen Empfehlungen nicht mehr an. Ein Abkommen, das nicht perfekt ist, stellt die Juristin Nadezhda Nizovkina kritisch fest: “Es gibt einige strittige Punkte, insbesondere die Frage nach dem Verständnis des Begriffs der nationalen Minderheit … Meiner Meinung nach sollte diese Konvention den Schutz der Rechte aller geschwächten Subjekte auf der Grundlage von Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit, einschließlich Nicht-Staatsbürgern und Migranten, vorsehen”.

Trotz ihrer Kritik unterstreicht Nizovkina die weitreichende Bedeutung des Rahmenabkommens, wie das Recht auf Schutz vor Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit. Außerdem betont das Rahmenüberkommen die Gleichheit als wesentlich Grundsatz.

“Dies ist ein im russischen Rechtssystem völlig unbekannter Begriff,” analysiert Nizovkina. Der Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung ist nicht gegeben. Genauswenig das in der Konvention formulierte Verbot der Zwangsassimilation und der Grundsatz der freien Meinungsäußerung. Trotz ihrer Schwäche beinhaltet das Übereinkommen auch den Grundsatz der freien Wahl von Sprache und Bildung.

Die Juristin wirft Russland vor, Personen, die einer ethnischen Minderheit angehören oder Nicht-Staatsangehörige sind, den Schutz zu verweigern.

Russland distanziert sich immer stärker von der internationalen Gemeinschaft, isoliert und schottet sich ab, findet Nizovkina. Russlands will sich der Kontrolle entziehen, die Botschaft aus dem Kreml: “Wir sind eine souveräne Demokratie”. Russland errichtet einen neuen eisernen Vorhang.

Nizovkina sieht einen Zusammenhang zwischen dem Aufkündigen des Abkommens und der Zwangsrekrutierung. In einem Bericht an den Europarart hätte die russische Regierung über die Wahrung der Rechte nationalen Minderheiten während des Krieges berichten müssen, insbesondere für den Zeitraum der Mobilisierung – sowohl der offiziell angekündigten Teilmobilisierung als auch der laufenden inoffiziellen Mobilisierung.

“Wir sprechen hier von einer Mobilisierung nach ethnischen Kriterien. Mir liegen Informationen vor, dass Militärkommissionen eine Auswahl auf der Grundlage der ethnischen Zugehörigkeit vornehmen. Und wenn sie die eine oder andere Akte des nächsten Wehrpflichtigen oder Mobilisierten in den Händen halten, schauen sie auf seine ethnische Zugehörigkeit und legen eine Reihe dieser Akten beiseite, wenn es sich um die russische Titularnation handelt”.

Betroffen sind in erster Linie Burjaten und andere ethnische Gruppen (Tuwiner, kaukasische Völker usw.). Russland müsste dem Europarat Rechenschaft ablegen über die unverhältnismäßig hohe Zahl von Minderheitenangehörigen in der russischen Armee, unter den gefallenen und vermissten Personen.

Der Schutz und die Förderung von nationalen Minderheiten in Russland war bisher mehr als nur dürftig. Mit dem Austritt aus der Rahmenkonvention wird die rechtliche Lage für Minderheiten-Angehörige noch prekärer. Außerdem wird dadurch die internationale Unterstützung verunmöglicht. “Dennoch werden wir weiterhin hoffen, dass die inoffiziellen diplomatischen Mechanismen der internationalen Gemeinschaft, insbesondere des Europarates, weiterhin Einfluss auf Russland haben werden. Deshalb werden wir uns auch weiterhin mit Menschenrechtsverletzungen befassen, insbesondere mit Menschenrechtsverletzungen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit,” kündigt die streitbare Juristin an.

Nadezhda Nizovkina, geboren in Burjatien, ist Juristin, Menschenrechtlerin, Dichterin und Literaturkritikerin. Sie verteidigt politisch Angeklagte vor Gericht. Sie erzählt über die Prozesse in ihrem Youtube Kanal, damit die Öffentlichkeit in Kriegszeiten über die verdeckte, nicht offizielle Mobilisierungswelle in Burytien erfährt.
Sie spricht offen gegen den Russlands Krieg gegen die Ukraine, wurde wegen der „Diskreditierung der Armee“ zu 45.000 Rubel verurteilt, die sie aus Überzeugungsgründen weigert zu bezahlen.

Siehe auch: Денонсация конвенции о защите нацменьшинств

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

Zurück zur Home-Seite