Die Südtirolbesessenheit der Fratelli

Parteichefin Giorgia Meloni und wohl baldige Regierungschefin Italiens „bekennt“ sich zur Südtirol-Autonomie, ihre Vorstöße im Parlament sprechen eine völlig andere Sprache.

Von Simon Constantini

Verschiedene Kommentatorinnen behaupten, die von einer neofaschistischen Regierung in Italien für Südtirol ausgehende Gefahr wäre gering, da die Rechtsradikalen ohnehin keine Zeit und kein wahres Interesse daran hätten, sich mit Südtirol zu befassen.

Südtirol, amtlich Autonome Provinz Bozen – Südtirol, ist die nördlichste Provinz Italiens und bildet zusammen mit der Provinz Trient die autonome Region Trentino-Südtirol. Seit Inkrafttreten der erweiterten Autonomie im Jahr 1972 genießt Südtirol umfassende Selbstverwaltungsrechte und wird entsprechend als „autonome Provinz“ oder „Land“ bezeichnet. Südtirol hat rund 530.000 Einwohner, die mehrheitlich deutschsprachig sind. Es gibt  eine ladinische Minderheit sowie Italienischsprachige.

Giorgia Meloni, die Parteichefin der Fratelli, bittet in ihrem Brief an die Dolomiten, ihre Partei nach deren bisherigen Tätigkeit zu beurteilen. Da trifft es sich gut, dass ich schon vor einigen Wochen damit begonnen hatte, die parlamentarische Aktivität von Francesco Lollobrigida — seines Zeichens FdI-Fraktionsvorsitzender in der Kammer und Schwager von Giorgia Meloni — etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Mit Südtirol hat er sich in der ablaufenden Legislatur bevorzugt — um nicht zu sagen: obsessiv — befasst und sehr viel Zeit dafür aufgebracht:

– Mit Anfrage zur mündlichen Beantwortung 3-00161 vom 12. September und Antrag 1-00038 vom 21. September 2018 echauffierte er sich über die Pläne für eine doppelte Staatsbürgerschaft „im achzigsten Jahr nach dem Anschluss“ und forderte ein sofortiges Einschreiten der italienischen Regierung „zum Schutz der nationalen Integrität“ und„der italienischen Minderheit“ in Südtirol angesichts sezessionistischer und antiitalienischer Tendenzen.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-03154 vom 24. Juni 2019 machte er sich die wahnwitzige „Sorge“ von Alessandro Urzì (FdI) zueigen, dass uniformierte Mitglieder der österreichischen Polizei am Brenner einen Kaffee trinken oder eine Pizza essen, die er als „unrechtfertigbare Inkursionen“ bezeichnete. Die italienische Regierung teilte am 25. Februar 2020 mit, dass sie sich diesbezüglich mit der Nordtiroler Polizei in Verbindung gesetzt und „die Problematik“ thematisiert hätte.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-04042 befasste sich der Fraktionsvorsitzende mit dem Plakat der STF zu den einsprachigen Ärztinnen und mit der als „offen diskriminierend“ bezeichneten Norm, die es neben einsprachig italienischen auch einsprachig deutschen Ärztinnen gestatten sollte, ihren Beruf in Südtirol auszuüben. Von der Regierung wollte er wissen, was sie darüber wisse und welche dringenden Maßnahmen sie setzen wolle.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-04682 vom 11. Februar 2020 machte er darauf aufmerksam, die SVP habe angekündigt, den Vorschlag der als „sezessionistische Bewegung“ bezeichneten Freiheitlichen zur Abschaffung des Regierungskommissariats zu unterstützen. Lollobrigida fragte, ob sich die Regierung mit Gewissheit ausschließen könne, eine derart schwerwiegende Reform in einem Gebiet „mit nahezu absoluter Autonomie“, in dem es häufig Selbstbestimmungs- und Sezessionsgelüste gebe, umzusetzen.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-05076 vom 2. April 2020 machte er sich für die Rettung der Solland Silicon – ein Chemie-Unternehmen – in Meran stark, für die ein Angebot aus China vorliege.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-06807 vom 10. September 2020 thematisierte er die ORF-Nachrichtensendung Südtirol heute, die Giorgia Meloni als „postfaschistisch“ bezeichnet hatte. Er wandte sich gegen die Finanzierung ausländischer Sender durch „italienische Institutionen“ (gemeint ist das Land Südtirol) und forderte „das Grundrecht auf Respekt für jede im Parlament, im Landtag und im Regionalrat vertretene Partei“ ein.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-07597 vom 20. September 2020 wies Lollobrigida darauf hin, dass die in Meran ansässigen und wegen Terrorismusplänen verurteilten A. R. N. und E. H. nach Absitzen ihrer Haftstrafe bewacht werden sollten und erkundigte sich, ob man sie nicht abschieben könne.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-07697 vom 3. Dezember 2020 beanstandete der Fraktionsvorsitzende von FdI, dass in Südtirol Plakate aufgehängt worden seien, die „dem Gedenken an einige sezessionistische Terroristen der 60er Jahre, darunter Sepp Kerschbaumer, und an die Angehörigen seiner subversiven Organisation“ huldigten und forderte „die Position und die Tätigkeit paramilitärisch aufgebauter Organisationen wie der Schützen“ näher unter die Lupe zu nehmen.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-08369 vom 24. Februar 2021 kritisierte er die von Österreich wegen der Pandemie umgesetzten Verschärfungen an den Grenzübergängen und forderte die Regierung, tätig zu werden, um den LKW-Verkehr zu schützen.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-08500 vom 10. März 2021 machte er darauf aufmerksam, dass die SVP in Meran die Entfernung des neofaschistischen Films „Red Land Rosso Istria von der Homepage der Gemeinde gelobt und die Relativierung faschistischer Verbrechen kritisiert habe und fragte die Regierung, wie sie den Erinnerungstag an die Opfer der Karsthöhlen schützen wolle.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-09160 vom 30. April 2021 fragte Lollobrigida, ob die italienische Regierung angesichts der Verhaftung von sieben ehemaligen Mitgliedern der Roten Brigaden durch die französischen Behörden nicht endlich etwas unternehmen wolle, um auch die im Ausland lebenden Südtirol-Aktivisten der italienischen Justiz zu übergeben.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-09776 vom 12. Juli 2021 thematisierte er, dass ein ausländischer Bürger in Bozen zehn Personen angegriffen habe und fragte die Regierung, was sie tun wolle, damit sich so etwas nicht wiederhole.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-09498 vom 11. Juni 2021 stellte er fest, dass die „erklärtermaßen sezessionistischen Organisationen“ Südtiroler Schützenbund und Südtiroler Heimatbund am darauffolgenden Tag in Frangart der Feuernacht gedenken wollen und forderte, die Regierung möge sich gegen die Begnadigung der damaligen Aktivistinnen aussprechen, wenn sie nicht bedauern, um Verzeihung bitten und Entschädigungen zahlen.

– Mit Anfrage zur schriftlichen Beantwortung 4-11659 vom 24. März 2022 thematisierte er, dass im September 2020 in Innichen aufgrund des Proporzes kein italienisches Ausschussmitglied mehr möglich war und forderte eine Änderung der Verfassung und des Autonomiestatuts.

Allein diese Auflistung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) zeigt, dass sich FdI seit 2018 häufig mit Südtirol beschäftigt hat. In mindestens 13 von insgesamt 78 Anfragen zur schriftlichen Beantwortung (16,7%), die Lollobrigida insgesamt eingereicht hat, geht es um unser Land, wo nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung des Staates wohnt. Ob sich dies ändern wird, falls FdI tatsächlich an die Regierung kommt, kann niemand sagen. Anlass zur Beruhigung sehe ich aber keinen.

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