„Die Demokratie ist wie ein Zug, aus dem man aussteigt, wenn man sein Ziel erreicht hat“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan trifft sich am Freitag mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin. Angesichts seiner Äußerungen zum Konflikt zwischen Israel und der Hamas wird der Besuch zu einem Balanceakt für den Kanzler, schreibt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne.

Das Zitat aus der Überschrift stammt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Auch wenn es über 15 Jahre her ist, dass der AKP-Vorsitzende diese Aussage tätigte, ist diese eine gute Beschreibung des machtpolitischen Ist-Zustandes der Türkei. Vom ehemals erträumten Ausgleich mit dem muslimischen Land und einer ernsthaft erwägten EU-Mitgliedschaft ist heute nichts mehr übrig. Die Türkei ist eine Autokratie.

Daher wird es kein Wohlfühltermin, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz den türkischen Präsidenten am Freitagabend in Berlin trifft. Erdoğan kommt auf einen dreitägigen Besuch nach Deutschland. Es gibt viel Kritik an dem Treffen und der Tatsache, dass dem Autokraten aus Ankara der protokollarische rote Teppich ausgerollt wird.

Durch die aktuellen Äußerungen Erdoğans zu Israel wird der Besuch im Kanzleramt zu einem Balanceakt. Erdoğan erklärte, Israel sei ein „Terrorstaat“, der im Gazastreifen Kriegsverbrechen begehe und das Völkerrecht verletze. Gleichzeitig wiederholte er seine Ansicht, dass die bewaffneten Hamas-Kämpfer keine Terroristen, sondern eine „von den Palästinensern gewählte politische Partei“ seien. Die Türkei werde sich dafür einsetzen, dass Israels politische und militärische Führer als „Terroristen“ anerkannt und vor internationalen Gerichten angeklagt würden. Im Gegensatz dazu bezeichnete der türkische Staatschef die bewaffneten Hamas-Kämpfer, die am 7. Oktober im Süden Israels wüteten und 1.200 Israelis abschlachteten, als „Widerstandskämpfer“, die ihr Land und ihr Volk schützen wollten.

Mit den Äußerungen zu den Hamas-Mördern hat sich Erdoğan für jeglichen ernsthaften Dialog selbst ins Abseits gestellt. Die menschenverachtenden Kommentare sprechen für sich. Doch Erdoğan weiß sich sicher: Olaf Scholz, die EU, der Westen, die Nato brauchen ihn, egal welche Abscheulichkeiten er absondert. Erdoğan wird nicht nur im Nahen Osten als Mittelmacht mit Anspruch auf regionale Dominanz gebraucht, ob man dies nun gut findet oder nicht. Auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen Ukraine sowie die Migration nach Europa sitzt Erdoğan in einer komfortablen Verhandlungsposition.

Nach dem Putschversuch 2016 und dem darauffolgenden gnadenlosen Vorgehen gegen die Opposition im Lande ist ein Klima der Angst und Resignation entstanden, das nach dem jüngsten Wahlsieg von Erdoğan sich noch weiter verstärkt hat. Die kritische Öffentlichkeit schweigt oder hat sich ins Ausland abgesetzt. Der Putschversuch hat es Erdoğan ermöglicht, die Presse fast vollständig für die Interessen seiner eigenen Partei zu vereinnahmen.

Die Regierung in Ankara gab im Jahr 2021 selbst bekannt, dass sie nach dem Putsch gegen 597.783 Personen rechtliche Schritte eingeleitet, 282.790 Personen inhaftiert und 94.975 Personen festgenommen hätten. Osman Kavala, einer der bekanntesten Philanthropen der Türkei und ein Verfechter der Zivilgesellschaft und des kultur- und religionsübergreifenden Dialogs, wurde verhaftet und befindet sich seit 2017 in Untersuchungshaft – unter der abwegigen Anklage, er sei ein Organisator der Gezi-Park-Proteste von 2013 gewesen. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Vorsitzende der kurdisch geführten Demokratischen Volkspartei (HDP), Selahattin Demirtas, wurde 2016 unter dem fadenscheinigen Vorwurf des Terrorismus inhaftiert.

Die Geschichte der Minderheitenrechte in der Türkei ist seit Langem ein Trauerspiel, und sie wird von der Regierung Erdoğan häufig für eigene politische Zwecke instrumentalisiert. Kurden, Armenier, Griechen, Assyrer und Juden neben anderen Gruppen sind in den letzten Jahren massiv unter Druck geraten, weil die Regierung nicht-türkische Minderheiten als Sündenböcke für die verheerende innenpolitische Lage hervorhebt.

Als die kurdisch geführte HDP im Juni 2015 einen überwältigenden Stimmenanteil von 14 Prozent erreichte, verlor die AKP von Erdoğan zum ersten Mal ihre parlamentarische Mehrheit. Erdoğan reagierte daraufhin mit der Wiederaufnahme der militärischen Einsätze gegen die PKK und begann mit der Verhaftung von HDP-Mitgliedern. Erdoğans Kalkül ist einfach: Wenn die Kurden nicht für ihn stimmen, ist er nicht verpflichtet, ihnen volle Rechte zu gewähren.

Für die türkischen Christen, deren Zahl mittlerweile nur einige Zehntausend beträgt, ist das Leben in den letzten Jahren noch schwieriger geworden. Armenier wurden aufgrund der starken Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan im jüngsten Berg-Karabach-Krieg zunehmend unterdrückt. In diesen Tagen ist das Bekenntnis zum Judentum in der Türkei lebensgefährlich.

Doch was bedeutet dies alles für den Besuch von Erdoğan in Deutschland? Natürlich muss Scholz mit Erdoğan sprechen. Auch mit Autokraten muss geredet werden, sei es um die eigene Position unmissverständlich klar zu machen. Der Bundeskanzler sollte die Chance nutzen, der eigenen Öffentlichkeit und mit Blick auf die mutige Opposition in der Türkei ohne Umschweife zu erklären, mit wem man es zu tun. Es darf keine Rücksicht genommen werden auf die Gefühle des Despoten aus Ankara.

Die Autokraten dieser Welt müssen wissen, dass sie nicht einfach schalten und walten können, wie sie wollen, nur weil sie in der verfahren Weltlage gebraucht werden. Doch es steht zu vermuten, dass daraus nichts wird. Bundeskanzler Scholz wird sich mit Kritik zurückhalten. Erdoğan wird zufrieden nach Hause fahren; er weiß, dass er am längeren Hebel sitzt. Minderheiten- und Menschenrechte haben in der neuen Weltordnung, die sich abzeichnet, wenig Platz außerhalb der rhetorischen, wohlfeilen Presseverlautbarungen.

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