ANALYSE – Koalitionsvertrag – Teil 3: Endet die Zeit der Russland-Versteher?

Auf 177 Seiten haben die Verhandlungsteams von SPD, Grünen und FDP die Leitlinien der kommenden Regierungsarbeit in Deutschland festgehalten.

Wir werden in den nächsten Tagen den Koalitionsvertrag abklopfen: Was wird über die Menschenrechte und den Minderheitenschutz ausgeführt?

 

Siehe auch:

ANALYSE – Koalitionsvertrag – Teil 2: China mit wertebasierter Außenpolitik begegnen?

ANALYSE – Koalitionsvertrag – Teil 1: Menschenrechte und Minderheitenschutz im Koalitionsvertrag – ein Paradigmenwechsel?

 

 

ANALYSE – Koalitionsvertrag – Teil 3: Endet die Zeit der Russland-Versteher?

Von Jan Diedrichsen

Gerne wäre man die berühmte Fliege an der Wand gewesen, als bei den Koalitionsverhandlungen über die künftige Russland-Politik gestritten wurde.

In Deutschland gibt es seit je her einen partiellen Hang zum „Russland-Verstehen“. In der SPD wird mit Verweisen auf die Ost-Politik von Egon Bahr und Willy Brandt für Verständnis und Nachsicht geworben – teilweise sogar, wenn es um Menschenrechtsverletzungen und die Drangsalierung der Nationalitäten des Landes geht.

Ein oft vergessener Fakt: Die Russische Föderation beheimatet rund einhundert Nationalitäten, Völker und indigene Völker (Übersicht hier).

Der designierte Bundeskanzler Scholz gilt zwar nicht als Putin-Apologet, wie der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Plattzeck, aber ist in seiner Zeit als Hamburger Oberbürgermeister und Finanzminister des Landes auch nie als entschiedener Russland-Kritiker aufgetreten.

 

Siehe auch:

Bundestagswahl 2021: Annexion der Krim und Verfolgung der Krimtataren nicht einfach hinnehmen – Russland entgegentreten

 

Anders die Grünen und die künftige Außenministerin Annalena Baerbock, die im Wahlprogramm und in mehreren Interviews erfreulich deutlich Klartext formulieren:

„Deutschland darf dieses korrupte Regime nicht weiter unterstützen“, erklärte die künftige Außenministerin als Reaktion auf den Giftanschlag auf den russischen Dissidenten Nawalny.

Auch FDP-Chef Lindner wird in Russland mit Skepsis beobachtet. Nicht unbemerkt werden seine regelmäßigen „Tweets“ zur Erinnerung an die Inhaftierung von Navalny geblieben sein. Oder noch ärger aus Kreml-Sicht, der Vizekanzler in spe, Robert Habeck, der im Wahlkampf gar über Waffenlieferungen an die Ukraine sinnierte.

Eines ist sicher, es wird wenig Zeit für ein freundliches Kennenlernen geben. Russland zieht Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen und wird verdächtigt, bei dem perfiden Spiel des belarussischen Diktators Lukaschenko die Karten mitzumischen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg reist derweil durch die Welt und warnt in immer schrilleren Tönen vor einem drohenden Waffengang in der Region.

Ironie wäre, wenn sich die neu zu sortierenden deutsch-russischen Beziehungen über die Schließung der Menschenrechtsgesellschaft Memorial in Moskau finden würde. Die Memorial-Liquidierung könnte das Verhältnis der Scholz-Regierung zu Russland vom ersten Tag an zum Problemfall machen. Zumindest wird es ein erster Lackmustest, wenn kurz nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung der Prozess in Moskau fortgesetzt wird und die angekündigte wertebasierte Außenpolitik auf den Prüfstand kommt.

Im Vergleich zu den Passagen über China, sind die Formulierungen zu Russland weicher: Wir erfahren im Koalitionsvertrag, dass die deutsch-russischen Beziehungen „tief und vielfältig“ sind und dass es einen „konstruktiven Dialog“ zwischen den beiden Ländern geben wird, der „auf dem Völkerrecht, den Menschenrechten und einer friedlichen Ordnung in Europa“ basiert, wozu sich „Russland bereits verpflichtet hat“. Deutlicher wird es mit Blick auf Ukraine: „Wir fordern ein unverzügliches Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim.“

(Alle Russland-Zitat aus dem Koalitionsvertrag am Ende des Textes)

Moskau wird sich nicht durch eine deutsche Außenpolitik, die sich deutlicher für Menschenrechte und Minderheiten einsetzt, auf einen neuen Kurs zwingen lassen; dennoch wäre ein solcher Paradigmenwechsel von großer Bedeutung.

Es wäre ein nicht zu unterschätzendes Signal an die vielen mutigen Dissidenten, die sich mit den täglichen Schikanen bis hin zu brutalsten Methoden der Staatsmacht eines autoritären Regimes rumschlagen müssen. Es wäre ein Zeichen, wenn sich die Bundesregierung nicht mehr vorrangig durch wirtschaftliche Interessen und ein Russland- Appeasement leiten lassen würde. Oder wie es die künftige deutsche Außenministerin gerne formuliert: Dass nun das Primat der Menschenrechtspolitik vor wirtschaftlichen Interessen gelten müsse.

Dabei ist zu hoffen, dass sich der Blick der deutschen Außenpolitik neben den großen Konfliktlinien mit Russland, im Donbas und an der polnisch-weißrussischen Grenze sowie der aufgeladenen Energiepolitik nicht dem Blick auf die „Kleinen“ und „Übersehenen“, die Minderheiten und Nationalitäten Russlands, verschließt.

VOICES berichtete laufend:

Memorial droht Liquidierung per Gerichtsbeschluss: GfbV-Preisträger in Russland vor Gericht

Memorial vor Gericht: Der Putin-Staat würgt die Menschenrechtsorganisation Memorial ab

Russlands indigene Völker fordern internationale Unterstützung zur Rettung der Arktis

Stepan Petrov, ein „ausländischer Agent“ bittet Mark Zuckerberg um Hilfe: Russland drangsaliert seine KritikerInnen

Rodion V. Sulyanziga: Auf dünnem Eis – Arktis unter dem Vorsitz Russlands und die indigenen Völker des Nordens

Wer, die Krimtataren?

Bundeskanzlerin Merkel trifft Putin: Krimtataren werden unterdrückt und verhaftet

 

Zitate aus dem Koalitionsvertrag zu Russland:

(Seite 159) Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig. Russland ist zudem ein wichtiger internationaler Akteur. Wir wissen um die Bedeutung von substantiellen und stabilen Beziehungen und streben diese weiterhin an. Wir sind zu einem konstruktiven Dialog bereit. Die Interessen beider Seiten adressieren wir auf der Grundlage der Prinzipien des Völkerrechts, der Menschenrechte und der europäischen Friedensordnung, zu denen sich auch Russland bekannt hat. Wir achten die Interessen unserer europäischen Nachbarn, insbesondere unserer Partner in Mittel- und Osteuropa. Unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen werden wir Rechnung tragen und den Fokus auf eine gemeinsame und kohärente EU-Politik gegenüber Russland legen.

Wir fordern ein unverzügliches Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Der Weg zu einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Ostukraine und die Aufhebung der diesbezüglichen Sanktionen hängt von der vollständigen Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ab. Wir treten für die Lösung eingefrorener Konflikte in der Region ein.

Wir wollen mit Russland stärker zu Zukunftsthemen (z. B. Wasserstoff, Gesundheit) und bei der Bewältigung globaler Herausforderungen (z. B. Klima, Umwelt) zusammenarbeiten.

Wir kritisieren die umfassende Einschränkung bürgerlicher und demokratischer Freiheiten mit Nachdruck und erwarten von der russischen Regierung, dass sie der dortigen Zivilgesellschaft die Gelegenheit zum ungehinderten Kontakt mit deutschen Partnern gibt, und verstärken unser Engagement zu ihrer Unterstützung. Wir wollen die Möglichkeit des visafreien Reiseverkehrs aus Russland nach Deutschland für besonders wichtige Zielgruppen, zum Beispiel junge Menschen unter 25, schaffen.

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