Wütende Ohnmacht

Bleibt die Ukraine sich selbst überlassen?

Von Wolfgang Mayr

Der Westen ist ein Meister des Verrats. 1936 schauten die demokratischen Staaten der Welt zu, wie in Spanien General Franco gegen die Republik putschte. Er bekam „Schützenhilfe“ vom nationalsozialistischen Deutschland und vom faschistischen Italien. 1938 überfiel Nazi-Deutschland die tschechoslowakische Republik, der demokratische Westen schaute hilflos zu. Das Wegschauen stärkte das „Dritte Reich“, das Abseitsstehen führte in den Zweiten Weltkrieg.

Der Westen ließ in den 1950er und 1960er Jahre die Protestierenden in Ungarn, in der DDR, Tschechoslowakei und in Polen im Stich. Westliche Demokratien fielen Demokraten im Iran, im Kongo und in Guatemala in den Rücken. In Chile organisierte der US-Geheimdienst den blutigen Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende.

Im Nahen Osten zählt die kurdische Nation zu den Verratenen. Sie wurde nach der „Neuordnung“ nach dem Ersten Weltkrieg auf gleich vier Staaten aufgeteilt. Die gegen den klerikal-faschistischen IS kämpfenden Kurden in Syrien überließ der Westen dem Nato-Partner Türkei, der in Kollaboration mit dem Assad-Regime, Russland und dem Iran Kurd:innenterrorisiert.

Marina Weisband

Das jüngste Beispiel ist die Ukraine. Dem von Russland überfallenen Land gehen die Soldaten und das Kriegsgerät zur Verteidigung aus. Die vielen versprochenen westlichen Waffenlieferung blieben aus. „Der Westen wunderte sich darüber, warum die ukrainische Gegenoffensive nicht so gut laufe,“ schreibt die aus der Ukraine stammende Publizistin Marina Weisband in der „Jüdischen Allgemeinen“. Ihre Analyse „Wütende Ohnmacht“ entzauberte die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“. Die ukrainische Gegenoffensive laufe nicht so gut, spottet sie „ja wie denn auch? Man hatte Putin Zeit gelassen, neu zu mobilisieren und Verteidigungslinien zu festigen. Jede solcher überraschten Analysen fuhr mir unter die Haut und zerstörte einen Teil in mir. Einen Teil des Glaubens an die Menschheit und an die Verteidigungsfähigkeit des Westens und der Demokratie.

Weisband unterstellt dem Westen, nachvollziehbar, einen „rationalen Schachzug“: „Warum sollte es für die NATO nicht die nachhaltigere Lösung sein, Russland nicht direkt abzuschrecken, sondern über eine lange Zeit in der Ukraine ausbluten zu lassen, um die russische Wirtschaft und Verteidigungsfähigkeit zu reduzieren? Wie lässt sich anders erklären, dass US-Präsident Biden noch vor der Invasion gesagt hat, die NATO würde nicht eingreifen, wenn Russland in der Ukraine einmarschiert?

Michael Gold

Der russische Vorwand, die Ukraine von angeblichen Nazis zu befreien, verfing in vielen Teilen der westlichen Öffentlichkeit. Ja dann, zeigten große Teile der Linken gar Verständnis für den russischen Eroberungskrieg, kaschierte als „Befreiungskrieg“. Dem widerspricht energisch Michael Gold, Chefredakteur der jüdischen Zeitung in Kyiv: „Es ist allgemein bekannt, dass die ´Panikmache´ des Kremls über die Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung, angeblich grassierenden Neonazismus und Antisemitismus vor zwei Jahren als Vorwand für die russische Aggression diente. Tatsächlich ist das Ausmaß des Antisemitismus in der Ukraine sowohl damals als auch heute – inmitten des Krieges – sehr gering. Nach Angabender Nationalen Gruppe zur Überwachung der Minderheitenrechte wurden 2023 nur drei Fälle von antisemitischem Vandalismus und kein einziges Gewaltverbrechen gegen Juden registriert.

Gold kommt zum Schluss, dass in Deutschland der Antisemitismus – im ehemaligen Land der Täter:innen – weit verbreitet ist. Den Einmarsch in die Ukraine benennt Gold als „eine Episode in der globalen Konfrontation mit dem Westen, ein Test seiner Stärke. Durch den russischen Krieg gegen die Ukraine erlitt laut Gold auch die jüdische Gemeinschaft einen schweren Schlag: „Diese Menschen brauchen nicht weniger Unterstützung und Aufmerksamkeit als noch vor sechs Monaten. Wenn wir uns also an den 7. Oktober erinnern (Tag der Hamas-Gewaltorgie in Israel), sollten wir den 24. Februar nicht vergessen.“

Gegen das Vergessen

Gegen das Vergessen wendet sich der BR24 in seinem „Thema des Tages“ „Zwei Jahre nach dem russischen Überfall“. Die Intensität der russischen Angriffe nimmt wieder zu, berichtete BR24-Ukraine-Korrespondentin Andrea Beer.

Die Formen russischer Gewalt sind unterschiedlich, sie reichen vom Psycho-Terror bis zum Kriegsverbrechen wie in Butscha. Anfang März 2022 besetzten russische Soldaten das Dorf Jahidne im Norden der Ukraine. Die Besatzer sperren die Dorfbewohner in den äußert engen Keller einer Schule. Sie erzählen „Vom Überleben im Keller von Jahidne“ im radioFeatur des Bayerischen Rundfunks.

Das Putin-Regime ließ schon frühzeitig Dissident:innen ermorden, wie Anna Politowskaja, die List der Ermordeten ist lang. Jüngstes Opfer des Regimes ist Alexei Navalny, inhaftiert in den ehemaligen sowjetischen Gefangenenlagern sind unzählige Frauen und Männer. Aktuell auf der Agenda ganz oben steht Oleg Orlovvon der inzwischen verbotenen Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Zehntausende sind in den vergangenen zwei Jahren aus dem Putin-Russland geflohen. Trotzdem halten AfD-Granden und BSW-„Persönlichkeiten“ am angeblichen notwendigen Dialog mit dem Paten Putin fest.

Vor Putin geflohen ist auch Irina Scherbakova (hier zu hören im EinszuEins.Der Talk im BR-Podcast) russische Historikerin und Germanistin. Sie stand an der Seite von Oleg Orlov, wie er warb sie für ein demokratisches Russland. Seit Kriegsbeginn lebt die gebürtige Moskauerin im Exil in Berlin und in Israel.

Wenn Russland siegt?

Die TAZ widmet seit dem russischen Überfall auf die Ukraine eine Info-Serie zur Lage in der Ukraine.  Die TAZ schreibt auch gegen die Stimmung an, „dies ist nicht unser Krieg“ oder „Putin ist kein Kriegsverbrecher“ (Timo Chrupalla, AfD), die TAZ geißelt den westlichen Verrat an der Ukraine. Weit mehr als 10.000 Zivilist:innen wurden getötet, mehr als sechs Millionen Kinder, Frauen, Männer, Alte flüchteten in europäische Länder. Sie werden wegen der Aussichtslosigkeit bleiben. Die TAZ stellt sich die Frage, was werden die Konsequenzen sein, wenn Russland die Ukraine besiegt?

Davor warnt „ukraineverstehen“. Der Krieg geht uns alle an, ist „ukraineverstehen“ überzeugt: „Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass sie gewinnen. Den Krieg gewinnen heißt: die volle territoriale Integrität und politische Souvenität der Ukraine verteidigen. Die große Mehrheit der Ukrainer weiß, was es bedeutet, unter russischer Besatzung zu leben: Gewaltherrschaft, Massengräber, Folter, willkürliche Verhaftungen, Deportationen, Ausschung der ukrainischen Sprache und Kultur. Niemand dürfe die Ukraine nötigen, Millionen Menschen preiszugeben oder zu ´territorialen Konzessionen´drängen.

Aber, „ob die Ukraine den Krieg gewinnen kann, hängt entscheidend von uns abWoran es fehlt, ist der politische Wille, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Bei aller Anerkennung für die bislang geleistete Unterstützung: Sie zielte darauf ab, dass sich die Ukraine unter großen Verlusten behaupten, nicht aber, dass sie die Oberhand gewinnen konnte.

 

 

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