Verratene Völker zwischen Hitler und Stalin

Von Tilman Zülch, Johannes Vollmer

1989 erinnerten Tilman Zülch und Johannes Vollmer in der GfbV-Taschenbuch-Reihe „pogrom“ an die verratenen Völker zwischen Hitler und Stalin, sie erinnerten an den gern verdrängten und deshalb vergessenen Hitler-Stalin-Pakt 1939. Mit diesem Geheim-Abkommen teilten sich die beiden totalitären Staaten das östliche Mitteleuropa auf. Mit allen dramatischen Folgen für die dort lebenden Juden und slawischen Völker. Es wurde „ethnisch gesäubert“. Ein Auszug:

Der Eiserne Vorhang schmilzt, Völker melden sich zu Wort, die fast ein Menschenalter lang dem „europäischen“ Bewußtsein nicht mehr gegenwärtig waren. Die Völker und Volksgruppen der 1939/40 von Stalin okkupierten Territorien zwischen Ostsee und Schwarzem Meer erheben ein halbes Jahrhundert nach dem brutalen Einfall der beiden Diktaturen wieder ihre Stimme – zum Erstaunen, aber auch zum Befremden der westlichen Welt. Reval/Taliinn, Riga und Wilna, Lemberg/Lwiw, Czernowitz und Kichinew kehren nach Europa zurück, werden zu Schauplätzen von Demonstrationen, Kundgebungen, Veränderungen. Einst gleichgeschaltete sowjetische „Republiken“ erscheinen wieder als eigenständige europäische Nationen. Sprachen, jahrzehntelang unterdrückt oder beinahe ausgelöscht, erkämpfen sich wieder ihren alten Platz, werden wieder zu Amtssprachen wie das Estnische, Lettische, Litauische oder das Rumänische in der Sowjetrepublik Moldawien.

Fragen der ökonomischen Neuordnung, des ökologischen Überlebens, der kulturellen Renaissance und der Menschen- und Bürgerrechte bestimmen den Neuaufbruch dieser Völker. Sie wurden erst durch das verbrecherische Einverständnis zweier Diktaturen Teile der Sowjetunion, blieben es, weil die UdSSR bis heute die Annektionen, die durch den Vertrag mit Hitler möglich wurden, nicht rückgängig gemacht hat. Ein Großteil der historischen Verantwortung für die heutigen Konflikte liegt zuletzt bei einem Mann, der erst seit kurzem in diesen Regionen als Massenmörder und Diktator verurteilt werden kann, bei Stalin.

All die Völker, von denen in diesem Buch die Rede sein wird, sind Opfer des Hitler-Stalin-Paktes, jener Machtaufteilung zweier Diktatoren, die Millionen Menschen das Leben kostete und vielen Völkern das Selbstbestimmungsrecht raubte. Von ihnen, den Nationen, Nationalitäten und Minderheiten, den Finnokareliern, Esten, Letten, Litauern, Deutschen, Juden, Polen, Ukrainern, Weißrussen, Ungarn, Rumänen, Gagausen und Bulgaren, die die von Stalin annektierten Länder und Provinzen in Ostfinnland, Estland, Lettland, Litauen, Ostpolen, Bessarabien und der Nordbukowina, aber auch die erst nach 1945 annektierten Regionen Nordostpreußen und der Karpato-Ukraine bewohnten oder bis heute bewohnen, handelt dieses Buch.

Der Pakt der Massenmörder

Man erinnere sich: Das nationalsozialistische Deutschland erklärte im Sommer 1939, daß „keine außenpolitischen Gegensätzlichkeiten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion mehr bestünden. Wie Hitler das sowjetische Stillhalten brauchte, um Polen zu überfallen, war Stalins Drang, sein Imperium nach Westen auszudehnen, von Hitlers Zustimmung abhängig. Diesen Lohn Moskaus schrieben die Außenminister Hitlers und Stalins im Geheimen Zusatzprotokoll des Pakts fest.

Der Pakt mit Stalin erleichterte oder ermöglichte es Hitler, Polen zu überfallen und zu zerschlagen. Der Osten Polens wurde absprachegemäß der Roten Armee überlassen. Der NS-Staat begann mit Rückendeckung Stalins die Vernichtung des jüdischen Volkes in Polen. Kaum eine andere jüdische Minderheit Europas wurde so weitgehend ausgerottet wie die Polens. In diesem Lande wurden Vernichtungslager aufgebaut und Millionen Juden aus vielen Teilen Europas ermordet.

Gegenüber der polnischen Bevölkerung unterschied sich die Politik der beiden Diktatoren kaum: Hunderttausende Polen wurden vertrieben, deportiert, in Lager verschleppt, starben als Arbeitssklaven oder wurden erschossen. Beiden Diktatoren war die Gegnerschaft gegen den polnischen Staat als Ergebnis des Versailler Vertrags gemeinsam. Hitlers Haß auf das „Versailler System“ fand sein Äquivalent in der stalinistischen Außenpolitik. Hitlers in Polen vollendete Zerschlagung der begründeten europäischen Nachkriegsordnung fand ihre Mittäter und Erfüllungsgehilfen in Stalin und Molotow. Polen war für Molotow nur ein „häßlicher Sproß des Versailler Vertrags“, von dem nach einem „einzigen raschen Schlag (…) erst seitens der deutschen und dann seitens der Roten Armee (…) nichts übrig“ (31.10.1939) blieb. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 und der sowjetische am 17. September läuteten den Beginn der Zerschlagung der kleinen Staaten des „Cordon Sanitaire“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein und machte die beiden imperialen Mächte zu Nachbarn.

Dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen folgten der Überfall auf Finnland und die Besetzung des Baltikums (Sommer 1940), der bis dahin rumänischen Nordbukowina und Bessarabiens. Bis heute fallen auch die sowjetischen Standpunkte in der Bewertung dieses „Teufelspaktes“ weit auseinander. Während Gorbatschow den Hitler-Stalin-Pakt im Juli 1988 als „unausweichlich“ rechtfertigte und die Annektion des Baltikums in die UdSSR noch im September 1989 als freiwillige Eintritt in die Sowjetunion bezeichnete, weisen die sowjetischen Historiker Juri Afanassjew und Wjatscheslaw Daschitschew vorbehaltlos auf den verbrecherischen Charakter des Paktes hin. Stalin, der laut „Moskowskije Nowosti“ in den Jahren vor Paktabschluß noch 120.000 Offiziere der Roten Armee liquidieren ließ, habe, so Daschitschew, mit „seiner grenzenlosen Arglist und Grausamkeit (…), seiner Unmenschlichkeit und seiner Amoralität“ jede Opferzahl in Kauf genommen. „Stalin interessierte es nicht, ob es 20, 30 oder 50 Millionen Tote waren.“

Hitler – Stalin, zweiten Seiten einer Medaille

Ob im Baltikum, der Ukraine oder in Polen, nun werden diese unfaßbaren Verbrechen schonungslos enthüllt. Doch lange genug hatte man nicht nur deren Leugnung und Tabuisierung zusehen, sondern auch hinnehmen müssen, daß die neostalinistischen Regierungen Osteuropas die Verantwortung auch für viele dieser Massenvernichtungen dem nationalsozialistischen Regime Hitlers zuschoben. Die Gleichsetzung von Hitler und Stalin im Sinne einer gleichen Verurteilung gleichartiger Verbrechen wird von vielen, die ihren Ort als politisch „links“ bestimmen würden, noch immer nicht hingenommen. Das zeigen neuere Beispiele „linker“ Publizistik wie bei „Spiegel“-Herausgeber Augstein, dessen Behauptung, Stalin habe „vernünftiger als das Monstrum Hitler“ gehandelt, eine Verhöhnung der Opfer des Hitler-Stalin-Pakts darstellt. Derartige Kommentare sind Entlastungsversuche, die in ihrer Machart an vertraute deutsche Rechtfertigungsformeln in Bezug auf den Nationalsozialismus erinnern.

Kein noch so tiefschürfender Essay, der grundsätzlich ideologische und soziologische Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und stalinistischem Kommunismus herausarbeitet, kann die absolute Parallelität der Methoden beider Diktaturen leugnen. Begibt sich nicht derjenige, der Industrialisierung und Elektrifizierung anstelle der Vernichtung von 50 Millionen Menschen als wesentliches Ergebnis der Stalin-Diktatur betrachtet, in die Gemeinschaft jener, die, statt Auschwitz zu beklagen, Autobahnen als zentrales Verdienst des Hitlerregimes feiern?

Die Massenvernichtungen der SS in Auschwitz sind nicht deshalb weniger verbrecherisch, weil auch im sibirischen Kolyma drei Millionen Arbeitssklaven unter Aufsicht der Sicherheitstruppen des NKWD den Tod fanden, Hitlers Holocaust an den Juden ist nicht weniger furchtbar, weil in der Sowjetunion 14 Millionen Ukrainer durch Massenerschießungen von „Kulaken“, Kollektivierung und planmäßig durchgeführten Hungermord umgebracht wurden. Für das individuelle Opfer, für den Juden in Auschwitz wie für den nach Kolyma deportierten Polen, Ukrainer oder Balten, wäre das Problem der Singularität des einen oder anderen Genozid ohnehin nur eine akademische Frage zu spät Geborener. Die Austauschbarkeit des Grauens in den deutschen wie in den sowjetischen Konzentrationslagern nach dem Angriff auf die UdSSR macht der polnisch-jüdische Journalist Gustav Herling verständlich: „Ich denke voll Grauen und Scham an das durch den Bug geteilte Europa; diesseits beteten Millionen sowjetischer Sklaven für ihre Befreiung durch die Hitler-Armeen und jenseits lebten Millionen in deutschen Konzentrationslagern, deren letzte Hoffnung die Rote Armee war.“

Angesichts dieser Abermillionen durch den Stalinismus Ermordeten erscheint es im fünften Jahr der Regierung Gorbatschow kaum noch nachvollziehbar, wie unangefochten Breschnew, Stalins letzter Erbe, agieren konnte. So fiel es denn auch den Westeuropäern schwer, die Forderungen von Balten, Ukrainern oder Weißrussen ernst zu nehmen, die von angeblich „Ewig-Gestrigen“ und alten Exilanten in den westlichen Ländern vertreten wurden. Man nahm die osteuropäischen Dissidenten nicht ernst, wenn sie auf nationale Rechte pochten. Man hatte sich an das Blockdenken gewöhnt, hatte die Teilung Europas verinnerlicht, die Funktionäre des Neostalinismus als notwendige Partner akzeptiert.

Baltische, weißrussische oder ukrainische Exilvereinigungen, Parteien und Landsmannschaften wurden nicht selten belächelt, ihre Zeitschriften fanden über einen kleinen Kreis von Sympathisanten hinaus kaum Widerhall. Treffen und Kongresse von Exilgruppen der zweiten oder dritten Generation wurden von vielen als überlebte Heimattümelei abqualifiziert. Die meisten Parteien des Westens mieden in der Regel die Kontakte mit den letzten immer greiser werdenden Repräsentanten der 1940 von Stalin beseitigten baltischen Regierungen wie mit den Exilbewegungen überhaupt. Einerseits Kalter Krieg und strikter Antikommunismus, andererseits Arrangement mit den Erben Stalins – das waren die Gleise, in denen die offizielle Politik des Westens zu fahren pflegte. Die Dissidenten wurden der Fürsorge von Menschenrechtsgruppen überlassen oder bestenfalls mit hochdotierten Literaturpreisen bedacht, und die realsozialistischen Verhältnisse, zustande gekommen durch Angriffskrieg, genozidartige Verbrechen und permanente Unterdrückung, wurden zur politischen Normalität erklärt.

Nun muß Westeuropa, und nicht zuletzt die westeuropäische Linke, umdenken. Die verfolgten Dissidenten von gestern wurden zu gefeierten Repräsentanten des Wandels in ihrer Heimat, der demokratischen Erneuerung. Die Volksfronten stehen für kulturelles Selbstbewußtsein, ökologische Kritik und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die freie religiöse Betätigung, die Aufarbeitung und Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit gegen Orthodoxie, Stagnation und Machterhaltung um jeden Preis für eine Funktionärskaste, die nicht zuletzt auch Verantwortung trägt für Genozid und chauvinistische Niederhaltung der nichtrussischen Nationalitäten.

Überholte Nachkriegs-Ordnung

Das nationale Anliegen dieser Völker nicht zu verstehen, ist „ein Problem des Westens“, wie der litauische Schriftsteller Sigitas Geda sagt, der immer wieder auf die Mißverständnisse zwischen den ostmitteleuropäischen Völkern und dem Westen hinweist. Im Westen werden das Wiederaufleben nationalen Selbstbewußtseins und das Tempo der Erneuerungen oft mit Mißtrauen und einer beinahe Metternichschen Sorge um die Stabilität der durch den Hitler-Stalin-Pakt, Jalta und Potsdam festgelegten europäischen Teilungslinien angesehen. Denn die seit zwei Jahrzehnten geübte berechenbare Entspannungsdiplomatie wie die Politik der konventionellen und atomaren Abschreckung könnten ja durch die Veränderungen in Osteuropa überholt oder in Frage gestellt werden.

Dabei wird übersehen, daß ganz wesentliche Impulse zur Perestrojka heute nicht mehr von Moskau, sondern von den Volksfront- und Memorialbewegungen, also von „unten“ kommen, daß also ein Scheitern, ein Abdrängen und Kriminalisieren dieser Bewegungen auch ein Ende des Miteinanders zwischen ihnen und den Reformkräften der KP, der Moskauer Zentrale und der Perestrojka überhaupt bedeuten könnte. Seitdem die Reformbewegung auch auf die mit 50 Millionen Einwohnern zweitgrößte Unionsrepublik, die Ukraine, übergegriffen hat, nach dem Sturz von Breschnews Statthalter Schtscherbitskij, fühlt sich die versteinerte Nomenklatura in ihren Grundfesten erschüttert. Die Volksfronten der von Stalin versklavten Völker sind von Zusammenschlüssen der Intelligenzija für mehr Demokratie und Offenheit zu echten Volksbewegungen geworden, weil sie ihren Kampf auf die Wurzel dessen richten, was Stalin unterdrückt und verfolgt hatte: die Freiheit des Wortes, nicht bloß als Freiheit der Meinung, sondern auch der eigenen Sprache, Kultur und Geschichte dieser europäischen Völker.

Die Zukunft wird zeigen, ob diese Bewegungen ihren befreienden Charakter durch ein tolerantes Miteinander der verschiedenen Völker bewahren oder ob Nationalitätenkonflikte wie etwa in Aserbaidschan, wo offene und blutige Pogrome gegen die Armenier festzustellen sind, das Bild bestimmen werden.

Aufstand der Völker: Verratene Völker zwischen Hitler und Stalin, von Tilman Zülch, Johannes Vollmer, 3.12.2003 (gfbv.it)

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Minderheiten auf der Flucht. Krieg, Vertreibung, Exil, 1999 (gfbv.it)

Gustaw Herling: Welt ohne Erbarmen – Perlentaucher

Der Gulag in „Inny Swiat“ von Gustaw Herling-Grudzinski – GRIN

Gustaw Herling, ostile alla finzione | il manifesto

Wassili Grossman: Leben und Schicksal. Roman – Perlentaucher

Wassili Grossman: „Leben und Schicksal“ – Literatur – Kultur – Tagesspiegel

Wassili Grossman: Stalingrad in literarischer Großaufnahme – WELT

(47) Vassili Grossman (1905-1964) : Une vie, une œuvre (2001 / France Culture) – YouTube

 

 

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