09-08-2025
Russland-Sibirien: Kolonialismus pur
Der Schriftsteller Sergej Lebedew rechnet mit der russischen Eroberung Sibiriens ab

Im russischen “Rohstoffreservoir” Sibirien sind die 200.000 Angehörigen der verschiedenen indigenen Völker abgedrängte und diskriminierte Minderheiten. Foto: face-music.ch
Von Wolfgang Mayr
Laut Lebedew gibt es im russischen Bewußtsein Sibirien gar nicht. Denn Sibirien gilt nur als die riesige nordöstliche Landmasse, die im 16. Jahrhunderts erobert und teilweise besiedelte wurde. Letztendlich blieb dieses große Stück Land für die russische Machtzentrale in Moskau eine Zone der Verbannung und der Ausbeutung. Der russische Kolonialismus marginalisierte die indigenen Völker, ihre Jugend wird im russischen Krieg in der Ukraine verheizt.
Diese Abrechnung mit dem russischen Kolonialismus von Lebedew erschien in der “Neuen Züricher Zeitung”, “Sibirien gibt es nicht, Russlands Nordosten ist eine Kolonie und das zu sagen, ein Tabu”. Unbekanntes Sibirien. Kaum jemand kennt die “lokalen” Namen wie Labytnangi, Chatanga, Bodaibo, die von den russischen Eroberern aufgedrückten wie Laptewsee, Anschuinseln, Tscherskigebirge hingegen schon.
Es geht um die Macht, Namen zu geben, fasst Lebedew kurz und knapp die Eroberung auch über die Namensgebung zusammen: “Es schien, als sei Sibirien erst in dem Moment aufgetaucht oder zum Leben erweckt worden, als die Augen der russischen Entdecker auf es fielen”.
Lebedew schreibt, wie er in seiner Jugend begeistert Bücher über den indigenen Widerstand in Nordamerika las. Bücher, die in der UdSSR in riesigen Auflagen veröffentlicht wurden, ergänzt Lebedew, “weil die Geschichten bestens als indirekte Kritik am westlichen Imperialismus funktionierten”.
Unbekannter sibirischer Widerstand
Der Widerstand der Chanten, Ewenken, Jakuten und Dutzenden anderer wurde in der sowjetischen Geschichte verschwiegen. Genauer, nicht einmal eine begrenzte Reflexion darüber fand statt. Im Mittelpunkt russischer “Betrachtung” Sibiriens steht der Kampf gegen die Natur, nicht die brutale Unterwerfung der sibirischen Völker. Lebedew formuliert es folgendermaßen: “Die Russen als Pioniere, als Entdecker, nicht als Kolonisatoren, die gekommen waren, um sich fremder Lande zu bemächtigen, die bereits jemand anderem gehörten”.
In Sibirien fand keine Eroberung statt, so die russische und/oder sowjetische Erzählung, sondern nur eine Unterwerfung. Und dieses riesige Land mit seiner bitteren Kälte diente Stalin – und zuvor den Zaren – als “Standort” für seine Lager. “Vom europäischen Teil Russlands aus gesehen liegt es ´ausserhalb´, jenseits der Grenzen der bewohnten Welt, in der Wildnis,” beschreibt Lebedew die bewußte Ansiedlung des Gulag-Systems im eroberten Land.
Außen vor in der russischen Betrachtung Sibiriens blieben und bleiben die “kleinen Völker”. Das Schicksal ihrer brutalen Kollektivierung, die Verfolgung der Schamanen, werden ausgeblendet, wie die Gulags auch. Lebedew bedauert, dass auch die Liberalen diese Geschichte ausgeblendet haben, auch sie denken imperial.
Imperiales Plündern
Imperial ist auch der Umgang mit dem gigantischem Öl- und Gasvorkommen in Sibirien. Damit wurde lange Jahre die Sowjetunion am Leben erhalten, genauso wurde damit die Konjunktur in Putin-Russland angetrieben, damit finanziert das Putin-Regime seinen Krieg gegen die Ukraine. Großabnehmer jahrelang war die deutsche Industrie. “Von daher liegt die Quelle der Macht des Regimes weder in Moskau noch im Kreml, weder in Slogans noch in Propagandakampagnen – sie liegt in Westsibirien, tief in der Erde, wo Öl und Gas lagern,” analysiert Lebedew die Bedeutung der sibirischen Rohstoffe für den Machterhalt.
Die ins Abseits gedrängten indigenen Völker sind nicht in der Lage, die russische Kolonialpolitik in Sibirien zu stoppen. Die globale Erwärmung hingegen schon, vermutet Sergej Lebedew in seinem NZZ-Artikel “Sibirien gibt es gar nicht”. Das Putin-Russland schert sich wenig um den Klimawandel, leugnet ihn wie die Trump-Republikaner und andere rechte Kameraden weltweit. Russlands Konzerne werden weiter plündern, die vorhandene fossile Energie. Invasiv-unterwerfend nennt Lebedew die russische Haltung gegenüber der Natur. Lebedew hofft auf die grüne Energiewende, würde sie doch die Energieabhängigkeit gegenüber Russland drastisch verringern. Und damit auch die staatliche Macht.
Besonders das “Auftauen” des Permafrostes, elf Millionen Quadratkilometer des russländischen Territoriums (zwei Drittel der Gesamtfläche) liegen unter Permafrost, stellt das russische Kolonialprojekt Sibirien absolut in Frage. Die koloniale Logik der Erschließung Sibiriens – die Straßen, die Brücken, die Gebäude – wird einstürzen, ist Lebedew überzeugt: “Der schwindende Permafrost zerstört alles. Die Zivilisation versinkt im Morast und mit ihr die Öl- und Gasinfrastruktur”.
Lebedew hofft, dass sich damit die “eingefrorene” Geschichte Sibiriens bewegt. Die Infrastruktur der kolonialen Ausbeutung wird kollabieren, mit entsprechenden politischen Kollateralschäden. Lebedew formuliert dies positiv, diese Entwicklung “könnte zum Anstoß politischer Transformationen werden.”
Siehe auch:
– Autor Lebedew über russische Opposition: „Russland muss dekolonisiert werden“ | taz.de
– Sergei Lebedews Erzählungen: Titan oder die Gespenster der Vergangenheit
– Sergej Lebedew: 25 Stimmen aus Russland gegen den Krieg
– Sibirien gibt es nicht: Russlands Nordosten ist eine Kolonie – ein Tabu
– Iwgia-Report Indigenous-Russia
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