„Jesiden in der Sindschar-Region auf der Flucht: Machtpolitik auf dem Rücken der Bevölkerung“

VOICES-Kolumne im "Der Nordschleswiger": Aktuell spielt sich – weitestgehend von der Weltöffentlichkeit unbeobachtet – ein Drama ab, das schlimmste Erinnerungen an das Jahr 2014 weckt. Tausende Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden sind zum Spielball internationaler sowie regionaler Interessen geworden und fürchten um ihr Leben, schreibt Jan Diedrichsen in seiner Kolumne.

The ruins of Sinjar in July 2019 after the invasion of the Islamic State By Levi Clancy - Own work, CC0,

Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“ 

Von Jan Diedrichsen

Der russische Angriffskrieg und der Freiheitskampf der Ukraine dominieren in Europa und weiten Teilen der Welt die Politik und Nachrichtenlage. Wenige Hunderte Kilometer von Berlin entfernt schlagen russische Bomben ein. In Kaliningrad stehen mehr oder weniger gefechtsbereite atomwaffenbestückte Iskander-Raketen, die jede europäische Hauptstadt binnen Minuten zerstören können.

Während sich unser aller Augen und politische Tatkraft – zu Recht – auf diesen epochemachenden Konflikt richten, wächst der Frust in einigen Weltregionen. Mit gemischten Gefühlen und gar Abneigung sieht man die starke gemeinsame Front von USA, Europa und der Nato in dieser europäischen Schicksalszeit wachsen. Von Heuchelei ist die Rede. Der reiche Westen interessiere sich nur für Leid und Elend, wenn dieses vor der eigenen Haustür stattfinde und die eigene Sicherheit bedroht sei. An diesem Vorwurf ist etwas Wahres dran, aber es bleibt legitim, dass dieser Angriffskrieg, der das Gefahrenpotenzial für einen europäischen Flächenbrand in sich trägt, derzeit in Europa alles andere überschattet. Richtig ist aber auch, dass wir dabei die vielen Konflikte und Kriege dieser Welt nicht aus den Augen verlieren dürfen.

Drama im Irak unbeachtet von der Weltöffentlichkeit

Aktuell spielt sich – weitestgehend von der Weltöffentlichkeit unbeobachtet – im Norden des Iraks ein Drama ab, das schlimmste Erinnerungen an das Jahr 2014 weckt. Die Jesiden sind wieder auf der Flucht. Tausende Angehörige der religiösen Minderheit sind aus dem Gebiet um die nordirakische Stadt Sindschar geflohen. Ausgelöst haben die Fluchtwelle diesmal aber nicht die Schlächter des Islamischen Staates (IS), die in dem Gebiet vor acht Jahren einen Genozid verübten, sondern Soldaten der irakischen Armee. Die IS-Extremisten hatten 2014 Tausende von jesidischen Männern ermordet und Zehntausende Frauen und Mädchen verschleppt, versklavt und vergewaltigt.

Die Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe mit etwa einer Million Angehörigen, deren ursprüngliche Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei liegen. Die Jesiden betrachten sich teilweise als ethnische Kurden, teilweise als eigenständige Ethnie. Letzteres gilt insbesondere für die Menschen in der unter Angriff stehenden nordirakischen Sindschar-Region sowie in der europäischen Diaspora. Die Vereinten Nationen erkennen die Jesiden als eine eigenständige Ethnie an. Sie sind heute durch Auswanderung und Flucht auch in anderen Ländern verbreitet. In Deutschland bilden sie mit geschätzt 200.000 Mitgliedern die größte Diaspora weltweit.

„Abgestimmtes Vorgehen zwischen Bagdad und Ankara“

Die irakische Armee fordert von den jesidischen Milizionären den Abzug aus dem Sindschar-Gebiet. Die Regierung in Bagdad beansprucht die alleinige Staatsgewalt auf dem Territorium, das formal zum irakischen Staat gehört. In den Ohren vieler Jesiden klingt dies jedoch wie der blanke Hohn. Es waren die irakische Armee, aber auch die Peschmerga des autonomen kurdischen Teilstaats im Irak, die im Sommer 2014 das Weite gesucht hatten und die Jesiden damit schutzlos den IS-Mördern überließen. Die Einzigen, die der Minderheit damals zu Hilfe eilten, waren Kämpfer der PKK aus der Türkei und deren Verbündete im Nachbarland Syrien, die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG).

Viele Jesiden und Beobachter in der Region halten das aktuelle Vorgehen zwischen Bagdad und Ankara für abgestimmt. Sie sind der Auffassung, die irakische Zentralregierung handele auf Druck der Türkei hin. Der irakische Angriff auf die jesidische Miliz in der Sindschar-Region verläuft in der Tat zeitlich mehr oder weniger parallel mit einer neuen Offensive der türkischen Armee gegen die sogenannte kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak. Ankara betrachtet sämtliche Gruppen als Terroristen, die mit der PKK verbündet sind.

Spaltung der Jesiden-Gemeinschaft

Im Oktober 2020 einigten sich die Milizen im Sindschar und die Regionalregierung der kurdischen autonomen Region mit Sitz in Erbil auf eine gemeinsame Verwaltung. Neben dem Wiederaufbau der Region sah die Vereinbarung den Abzug der PKK und die Rekrutierung von lokalen jesidischen Sicherheitskräften vor. Umgesetzt wurde dies indes nie. Stattdessen teilen sich heute die irakische Armee, irakische Bundespolizei, Peschmerga, proiranische Milizen und jesidische Milizen die Kontrolle über die Region. Alle Seiten haben ihrerseits Jesiden rekrutiert. Das führt zur Spaltung der Jesiden-Gemeinschaft, und die internen Konflikte werden zum Teil mit großer Härte ausgefochten. Auf dem Rücken der jesidischen Zivilbevölkerung werden sowohl internationale als auch regionale Konflikte ausgetragen, das gilt auch für die notorischen innerkurdischen Machtkämpfe.

Die internationale Staatengemeinschaft muss intervenieren und die Zivilbevölkerung schützen vor den zahlreichen Interessensgruppen und selbst ernannten Beschützern. Dieser Wunsch ist aber unrealistisch, da der komplexe Konflikt in der Region und die vielen undurchschaubaren Konfliktlinien und Loyalitäten die internationalen Akteure abschrecken. Leidtragend ist einmal mehr die Zivilbevölkerung, die weiterhin in Angst und Schrecken leben muss, vertrieben oder getötet wird.

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