„Idol no more“: In Kanada sind Mädchen und Frauen von den tribal nations schutzlos der männlichen Gewalt ausgeliefert

Von Wolfgang Mayr

Der Ruf „Idle no more!“ ging im November 2012 wie ein Lauffeuer durch den Norden Kanadas. Dieser Ruf sorgte für Aufsehen, als Chief Teresa Spence von den Cree ihr Büro in der Subarktis verließ, nach Süden flog und vor dem Regierungsgebäude in Ottawa einen Hungerstreik begann.

Das weibliche Profil des Protests ist kein Zufall: Für die First Nations haben die Unterjochung der weiblichen Ureinwohner und die Unterjochung der weiblichen Erde einen gemeinsamen Ursprung.

Anfang 2013 veröffentlichte Human Rights Watch einen Report, der auf 84 Seiten aufdeckt, dass es in Kanada auch heute noch lebensgefährlich sein kann, Ureinwohnerin zu sein. Zu Hunderten waren Mädchen von tribal nations von Polizisten der RCMP (Royal Canadian Mounted Police) vergewaltigt und misshandelt worden, Morde waren nicht oder nur nachlässig untersucht worden. Der Highway 16 in der Westprovinz British Columbia wurde von den Angehörigen von Opfern in „Highway of Tears“ („Straße der Tränen“) umbenannt – Dutzende Frauen waren entlang dieser Fernstraße vergewaltigt oder getötet worden.

Seit bald zwei Jahrzehnten findet regelmäßig am Valentinstag in Vancouver ein Gedenkmarsch statt, in Erinnerung an ermordete Frauen. Eine Vielzahl indigener Mädchen und Frauen sind in den vergangenen 20 Jahren in Kanada Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen oder „verschwunden“. Viele dieser Gewalttaten beruhen auf offenem Rassismus.

Die vielen Morde an indigenen Frauen dokumentierte die GfbV, siehe:

Gewalt gegen indianische Frauen und Mädchen in Kanada beenden (gfbv.de)

Stolen Sisters: Verschwundene indigene Frauen in Kanada – GfbV Blog

Phil Fontaine von der Assembly of First Nations bemängelte, dass die kanadischen Strafverfolgungsbehörden viel zu lange gezögert hätten, das Verschwinden indianischer Frauen ernst zu nehmen. „Sie wertschätzten das Leben unserer Schwestern nicht“, sagte er.

Die „Sisters in Spirit“-Kampagne der Native Women’s Association of Canada (NWAC) konnte aufrüttelen. Eine Regierungskommission bestätigte die Vorwürfe zahlreicher Organisationen über Diskriminierungen gegen Indianer und insbesondere Indianerinnen.

Obwohl sie nur 4,3 Prozent der weiblichen kanadischen Bevölkerung stellen, sind mehr als 11 Prozent der vermisst gemeldeten Frauen indigen. Ihr Anteil unter den weiblichen Mordopfern beträgt gar mehr als 16 Prozent. Die Dunkelziffer könnte weitaus höher sein, denn die kanadische Regierung und die kanadische Polizei versäumen es immer wieder, einen statistischen Überblick zu schaffen, der zur zukünftigen Vermeidung dieser Verbrechen unerlässlich wäre.

Vor allem das Versäumnis der kanadischen Polizei, die ethnische Zugehörigkeit der verschwundenen Frauen zu erfassen, erschwert es, zuverlässige Statistiken zu erheben. Besonders dramatisch ist zudem, dass fast die Hälfte der Verbrechen, die gegen indigene Frauen begangen werden, bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Aufklärungsquote von Gewaltverbrechen im kanadischen Durchschnitt hingegen liegt bei 80 Prozent.

Rassistische Verbrechen

Die hohe Anzahl der vermissten und ermordeten indigenen Frauen ist Ausdruck eines systematischen Rassismus. Vermisstenanzeigen von indigenen Frauen werden oft weniger intensiv untersucht. Stattdessen stempeln die Beamten die indigenen Vermissten häufig als drogen- oder alkoholabhängig oder als Prostituierte ab. Darüber hinaus wird die Gewalt an indigenen Frauen oft als ein Problem der häuslichen Gewalt abgetan. Die meisten Täter sind aber nicht Mitglieder der indigenen Gemeinschaften.

Rassistisch sind auch die Täter. Sexuelle Übergriffe auf Indigene erscheinen ihnen weniger schlimm, als auf nicht-indigene Frauen. Eine Nachwirkung des Kolonialismus, der das sexualisierte Bild der willigen indigenen Frau pflegte.  Die Täter fühlen sich auch wegen der wenigen Verurteilungen für Verbrechen an indigenen Frauen in Sicherheit. Zahlreiche indigene Frauen wurden in den letzten Jahren vor Bars, Restaurants und auf Straßen entführt, verprügelt, sexuell missbraucht und ermordet. In vielen Fällen werden ihre Leichen in Gräben und im Unterholz „beseitigt“, verscharrt, zerstückelt oder in Seen und Flüssen versenkt.

Für eine landesweite Untersuchung der Verbrechen

Indigenen PolitikerInnen und Organisationen sowie Menschenrechtsorganisationen (Native Women Associaton of Canada, Amnesty International Kanada) drängten auf eine bundesweiten Untersuchung der zahlreichen Fälle. Selbstorganisationen betroffener Gemeinschaften wie Justice for Missing and Murdered Women sammelten dafür Fakten. Auch die kritisierte und umstrittene Bundespolizei RCMP legten einen Bericht über erschütternde Fälle vor. Die Vorgänger-Regierung von Trudeau lehnte aber eine bundesweite Untersuchung ab. Die unterlassene Polizeiarbeit, der fehlende Respekt und die niedrige Gewaltschwelle gegenüber indigenen Frauen machen es für sie dreimal wahrscheinlicher, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden, als für Frauen anderer ethnischer Abstammungen.

Armut und Arbeitslosigkeit

Indigene Frauen sind stärker von problematischen Wohnsituationen, Arbeitslosigkeit und einem geringeren Bildungsstand betroffen als andere kanadische Frauen. Daher bleibt vielen keine Alternative als Prostitution, Obdachlosigkeit und Drogensucht. Der ehemalige Präsident der First Nations, Phil Fontaine, erklärt: „Unsere Frauen werden wegen der zermürbenden Armut auf die Straßen gezwungen, und sie sterben inmitten eines Landes, das so viel Wohlstand genießt.“ Zwei Drittel der vermissten Frauen sind Mütter

Polizisten sensibilisieren

Eine entsprechende Ausbildung der Polizisten ist notwendig. Opfer-Verbände fordern Ermittlungsvorgaben bei vermissten indigenen Frauen, an die Polizisten sich halten müssen. Damit soll verhindert werden, dass Polizisten aus rassistischen Motiven oder Unwissenheitbewusst Fehler machen. Diese Polizisten sollten bei Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden. Auch mehr indigene Polizisten wären hilfreich.

Das angeblich liberale Kanada tritt international immer wieder als Verfechter der Menschenrechte auf. Doch bisher fehlt die kanadische Ratifizierung des Vertrages der Vereinten Nationen gegen Gewalt an Frauen. Die ILO-Konvention 169 über die Rechte indigener Völker wurde bisher nicht in kanadisches Recht umgewandelt.[3]

Ein kanadisches Thema

Viele indigene Frauen sind gesellschaftlich marginalisiert, bitter arm, oft obdachlos. Die AFN regten deshalb die Auflage eines staatsweiten Sozialprogrammes auf. Genauso ist ein Netz von Frauenhäusern auf den Reservaten, in indigenen Gemeinschaften auf dem Land und in der Stadt eine Priorität. Claudette Dumont-Smith, Leiterin der Native Women’s Association of Canada, erklärt: „Das ist ein kanadisches Thema. Es ist eine Schande für Kanada, dass beinahe jeden Monat unschuldige Leben genommen werden.“

Quellen: GfbV; Claus Biegert

Splash | Assembly of First Nations (afn.ca)

 

 

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