Föderalisierung von oben

Die rechtsrechte italienische Regierung will den Zentralstaat umbauen

Von Simon Constantini

Die von antifaschistischen Persönlichkeiten geschriebene italienische Verfassung von 1948 sah die Bildung eines Regionalstaates vor. Es dauerte aber satte 22 Jahre, bis die Regionen eingerichtet wurden. Ausnahmen bildeten die autonomen Regionen Sizilien, Trentino-Südtirol, Aosta, Sardinien und Friaul-Julisch-Venetien aufgrund internationaler Verträge. 

53 Jahre nach Inkraftreten der Verfassung folgte eine „föderalistische Verfassungsreform“. Mit dieser Reform von 2001 sollten die Regionen mit sogenanntem Normal-Statut aufgewertet werden. Gleichzeitig schränkte diese Reform die autonomen Regionen ein, so verlor die autonome Provinz Bozen-Südtirol als Teil der autonomen Region Trentino-Südtirol grundlegende Selbstverwaltungsbefugnisse. Die angebliche Föderalismus-Reform beschränkte Südtirols Autonomie. 

Die Regierung von Giorgia Meloni von den rechtsrechten Fratelli d´Italia plant die restlose Umsetzung der Verfassungsreform von 2001. Die Regionen sollen mit mehre Autonomie ausgestattet werden. Simon Constantini vom Brennerbasis-Blog und Mitautor des Buches „Kann Südtirol Staat?“ schaute sich detaillierte das Vorhaben sein. Sein Fazit:

Föderalisierung als Gefahr für die Autonomie.

Ausgerechnet eine Regierungsmehrheit unter Führung der postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) soll nach dem Wunsch der Lega die asymmetrische Autonomie im italienischen Staat umsetzen, wie sie Artikel 116 der Verfassung seit der Reform von 2001 vorsieht und mehrere Regionen schon seit Jahren fordern. Wie berichtet, gehen unter anderem PD und 5SB dagegen auf die Barrikaden.

Eine etwaige stärkere Föderalisierung des Gesamtstaates könnte nach allgemeiner Lesart auch für die bereits autonomen Gebiete von Vorteil sein, da so das Vorhandensein unterschiedlicher Formen von Selbstverwaltung in das Bewusstsein und in den Genpool des Zentralstaates übergehen würde. Autonomie wäre nicht mehr wie heute eine kleine Ausnahme, sondern, wiewohl regional unterschiedlich ausgeprägt, die allgemeine Regel.

DIE WESENTLICHEN BETREUUNGSSTANDARDS

Dennoch birgt die asymmetrische Autonomie der 15 Normalregionen auch Risiken für die sechs bestehenden Sonderautonomien Aosta, Friaul und Julien, Sardinien, Sizilien, Südtirol und Trentino. Ein warnendes Beispiel dafür, was uns erwarten könnte, bietet die Erfahrung mit den Wesentlichen Betreuungsstandards (WBS) im Gesundheitswesen.

Ursprünglich waren die WBS ausschließlich für die Gesundheitssysteme der gewöhnlichen Regionen plus Sizilien gedacht, denen damit eine zentral(istisch)e Regie und Kontrolle übergestülpt wurde. Die anderen autonomen Gebiete sollten ihr Gesundheitswesen im vorgegebenen Rahmen nach eigenen Kriterien formen und auslegen können, die Übermittlung von WBS-Daten nach Rom war freiwillig und unverbindlich. Mit der Zeit jedoch stieg der Druck — auch zum Beispiel von oppositioneller Seite in Südtirol — sich der zentralstaatlichen Überwachung »freiwillig« zu unterwerfen. Ist ein solches Kontroll- und Bewertungssystem erst einmal etabliert, wird es nämlich schwierig, sich ihm gänzlich zu entziehen.

Dabei wurden aber zwei zentrale Aspekte regelmäßig völlig außer Acht gelassen:

    • Die WBS waren von Anfang an nicht dafür konzipiert, Systeme zu überwachen und zu vergleichen, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Auslegung zu sehr unterscheiden. Eine vom zentralen Modell abweichende Organisation kann das WBS-Raster teils gar nicht erfassen und abbilden, weshalb autonome Lösungen bisweilen ungeachtet ihrer Leistungsfähigkeit (!) bestraft werden. Wenn also Südtirol gewisse Leistungen beispielsweise nicht über das Gesundheitssystem im engeren Sinne, sondern über eine andere Schiene abwickelt, werden ihm dafür womöglich keine Punkte im WBS-Raster angerechnet.
    • Bereiche, in denen Südtirol aus den unterschiedlichsten Gründen (auch aus denen, die im ersten Punkt genannt wurden) erst gar keine Daten »freiwillig« ans Ministerium nach Rom lieferte, flossen dennoch in die »freiwillige« Erhebung ein und bedingten somit eine negative Gesamtbewertung.

So konnte sich trotz angeblicher Freiwilligkeit — im Zusammenspiel mit einer hilflosen Kommunikation des Landes und recherchefaulen Medien — über die Jahre der Mythos eines Südtiroler Gesundheitswesens etablieren, das im Vergleich mit denen des Gesamtstaates zu den allerschlechtesten gehörte. Wiewohl es natürlich auch hierzulande teils grobe Probleme gibt, entsprach dieser Befund keineswegs der Realität. Nicht hilfreich war zudem, dass das benachbarte Trient sich anders als Südtirol oder Aosta ohne Zwang viel bereitwilliger dem gesamtstaatlichen System unterwarf, was weitere Verwirrung stiftete. Das Trentino konnte nämlich nicht hauptsächlich deshalb viel bessere Bewertungen als Südtirol erzielen, weil es tatsächlich ein so viel leistungsfähigeres Gesundheitswesen hat, sondern weil das WBS-System aufgrund seiner Auslegung autonome Organisation und Lösungen tendenziell bestraft. Wer freiwillig oder unfreiwillig darauf verzichtet, wird belohnt.

Letztendlich führte dies so weit, dass vor wenigen Jahren auch die autonomen Regionen und Länder dazu verpflichtet wurden, gänzlich dem WBS-System beizutreten. Wenn es ein staatsweites Monitoringsystem erst einmal gibt, ist die Versuchung, ihm alle, ungeachtet ihrer autonomen Zuständigkeiten, zu unterwerfen, sehr groß. Das damit einhergehende Risiko ist nun, dass Südtirol dazu gedrängt wird, nicht vor allem die echten Probleme in seinem Gesundheitswesen zu beheben, sondern — ungeachtet der tatsächlichen Notwendigkeit — auch Dienste so umzubauen, dass dies möglichst hohe WBS-Bewertungen sicherstellt. Zumindest aber wird man dazu übergehen müssen, Daten so zu erfassen, dass sie WBS-konformer werden, unerheblich ob dies eigentlich sinnvoll ist. Insgesamt nehmen die Anreize stark zu, das eigene System dem staatsweiten ähnlicher zu machen. Der Antrieb, sich gute Praktiken auch vom Ausland (etwa vom deutschsprachigen Raum, mit dem enge Kooperationen bestehen) abzuschauen, sinkt hingegen, da die damit erzielten Ergebnisse im WBS-System womöglich nicht honoriert werden.

DIE WESENTLICHEN LEISTUNGSSTANDARDS

Ein wichtiger Bestandteil der asymmetrischen Autonomie, wie sie die rechtsrechte Regierung von Giorgia Meloni (FdI) vorantreibt, ist tatsächlich die Festlegung von Wesentlichen Leistungsstandards (WLS), die alle Regionen zu gewährleisten haben. In wirklich föderal ausgelegten Staatsgebilden gibt es so etwas nicht, doch in Italien scheint es ohne eine zentralistische Regie offenbar nicht zu gehen. Das sehr reale Risiko ist nun, dass auch dieses System über kurz oder lang — verpflichtend oder nicht — den bisher autonomen Regionen und Ländern übergestülpt wird. Genauso nämlich wie die asymmetrische Autonomie an sich wird nämlich auch die Erwartungshaltung hinsichtlich der Sicherstellung der einheitlichen Standards ins staatsweite Mindset übergehen. Für Medien, Öffentlichkeit und Politik wird also die Versuchung groß sein, auch die Gebiete mit Sonderstatut über den einheitlichen Kamm zu scheren. Ein Gebiet, das in gewissen Bereichen tatsächlich autonome Lösungen sucht, wird dann — wie schon im Gesundheitswesen — möglicherweise schlechte Bewertungen erzielen, womit abermals der Druck steigt, sich selbst unverbindlichen zentralen Vorgaben zu unterwerfen. Das dient dann zwar der Punktezahl, schadet aber der Autonomie und führt womöglich auch zu einer Verschlechterung der tatsächlichen Leistungsstandards.

Siehe auch: Ancora disinformazione sui LEA;  Il Sudtirolo e i Livelli Essenziali di Assistenza; 

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