Der Hungertod in der Steppe

Acharchylyk: Kasachstan gedenkt dem stalinistischen Genozid

Foto: Wikipedia

Von Jan Diedrichsen

Acharchylyk ist nur wenigen ein Begriff. Hinter dem kasachischen Wort verbirgt sich das Gedenken an ein Menschheitsverbrechen. Am 31. Mai jeden Jahres wird in Kasachstan an die Hungerkatastrophe 1931-1933 gedacht. Offiziell als „Tag der Erinnerung an die Opfer der politischen Repression und des Hungers“. International fand dieser Genozid lange Zeit kaum Beachtung oder stand im Schatten des Holodomor in der Ukraine, der mittlerweile von vielen Ländern als gezielter Völkermord des stalinistischen Terrorregimes anerkannt wurde. 

Die Hungersnot von 1930-33 in Kasachstan forderte 1,5 Millionen Menschenleben, davon etwa 1,3 Millionen ethnische Kasachen. Die Kasachen sind eine muslimische, turksprachige Gruppe. Sie machten etwa 60 % der Gesamtbevölkerung vor der Hungersnot aus, während die restlichen 40 % aus Russen und Ukrainern bestanden. Vor der Hungersnot waren viele Kasachen Hirtennomaden, deren Lebensweise für die Identität der Bevölkerung und der Region von zentraler Bedeutung war. Stalins Kollektivierungspolitik zwang die Kasachen nicht nur, sich in Städten oder Kolchosen niederzulassen und ihre historischen Traditionen aufzugeben, sondern war auch eine der Hauptursachen für die Hungersnot. Das Ziel des Sowjetregimes bestand darin, die Lebensweise in Kasachstan radikal umzugestalten, ohne Rücksicht auf den Verlust von Menschenleben.

Der Hunger trieb Hunderttausende Kasachen zur Flucht in die benachbarten Republiken Usbekistan, Kirgisistan und Russland sowie ins benachbarte China. Durch die Hungersnot wurden die Kasachen zu einer Minderheit in ihrem Land und erst nach der Unabhängigkeit der Republik im Jahr 1991 erreichten die Kasachen wieder eine knappe demographische Mehrheit.

Stalins erster Fünfjahresplan, der 1929 aufgelegt wurde, sollte die Sowjetunion umgestalten; sein Ziel war es, den kapitalistischen Westen zu überholen und sich schnell zu industrialisieren. Die Kollektivierung der Landwirtschaft war ein zentraler Aspekt des Plans, und die Behörden drängten die Bauern gewaltsam in die Kolchosen, wo die Gemeinden verpflichtet waren, regelmäßig Fleisch und Getreide an den Staat abzuliefern.

Nomaden sollten dauerhaft angesiedelt und in die Kolchosen gedrängt werden. Die unmittelbare Folge der Kollektivierung in Kasachstan war ein drastischer Rückgang der Viehbestände, da die Kasachen ihre Tiere entweder zum Verzehr schlachteten oder sie verkauften, um die Getreidequoten zu erfüllen. Das gesellschaftliche Gefüge zerfiel durch eskalierende Gewalt, Panik auf Bahnhöfen, Krankheitsausbrüche und sogar Kannibalismus. Ganze Dörfer wurden zerstört; in einigen Regionen blieben nur verlassene Hütten, Leichenberge und Krankheiten zurück.

In der Sowjetunion wurde das Verbrechen totgeschwiegen, was aber nichts daran änderte, dass der Genozid tief im kollektiven Gedächtnis der Kasachen verankert blieb.

Zwar gibt es in Kasachstan mittlerweile zahlreiche Forschungsarbeiten über die Hungersnot, doch seit Mitte der 1990er Jahre ist die Diskussion über das Thema rückläufig. Ein Grund für diese Verschiebung sind die engen Beziehungen Kasachstans zu Russland. Die kasachische Führung fürchtet eine weitere Erforschung der Geschichte der Hungersnot, da dies möglicherweise die Spannungen mit Russland verschärfen oder zu Konflikten mit der großen russischstämmigen Bevölkerung Kasachstans führen könnte. 

Doch die Diskussion in Kasachstan flammt mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder auf.Es ist an der Zeit den Acharchylyk als einen Genozid anzuerkennen, der dem Holdemor gleichzusetzen ist. 

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