Beispiel Bolivien

Linke lateinamerikanische Länder rücken vom Westen ab. Wen wunderts?

Von Wolfgang Mayr

Das linke Lateinamerika sucht die Nähe zu den Brics-Staaten, zu Russland, China, Indien, usw. Chinesische und russische Unternehmen verdrängen US-amerikanische und europäische Konzerne vom Kontinent. Das linke Lateinamerika verabschiedet sich vom Kolonialismus der Vorväter. Vordergründig.

Der linke brasilianische Präsident da Silva konnte den radikalen Raubbau im Amazonas einschränken, die autochthonen Völker beklagen aber weiterhin den Siedlerkolonialismus in ihren Territorien. Der linke chilenische Präsident Boric, moderat wie da Silva, setzt die rechte Politik der Repression gegen die um Autonomie kämpfenden Mapuche fort.

Der ehemalige linke Präsident Nicaraguas, Ortega, agiert wie sein gestürzter Vorgänger Somoza und läßt den Landkrieg gegen die indigenen Völker zu. Ortega und seine Sandinisten hatten schon immer ein gestörtes Verhältnis zu den indianischen Ureinwohnern. Sie gelten als Hindernisse des Fortschritts.

Der ehemalige linke Präsident Mexikos, Obrador, tolerierte den Krieg der Oligarchen und der Mafia in Chiapas gegen die indigenistisch-zapatistischen Gemeinden, seine Wirtschaftspolitik nahm keine Rücksicht auf indigene Anliegen. Besonders viele Angehörige indigener Völker flüchten nordwärts in den USA, wo sie genauso wenig erwünscht sind.

Der Star der antiimperialistischen Linken, der Venezuelaner Maduro, ist ein Wahlbetrüger, agiert wie ein Kleinkrimineller, schert sich wenig um die indigene Gleichberechtigung und kopiert wie sein russisches Vorbild Putin. Maduro möchte den guayanischen Landesteil Esequibo annektierten, wegen seines Ölreichtums. 

Die lateinamerikanische Linke ist keine wirkliche Alternative zur lateinamerikanischen Rechten, den reinen Verfechtern des überlieferten Kolonialismus, vielfach verstrickt in Putsch-Gewalttätigkeiten und Völkermorden an der Urbevölkerung. Auch die Linke verachtet die indigenen Völker und ihre Forderungen nach Autonomie, Muliethnizität und Selbstbestimmung.

Bolivien fällt aus dem Rahmen. Dort schaffte es mit Evo Morales erstmals ein Angehöriger der indianischen Ureinwohner, zum Präsidenten des Landes gewählt zu werden. Auch deshalb, weil in Bolivien das anti-westliche Ressentiments besonders stark ausgeprägt ist, schreibt Josef Estermann auf Infosperber, ein schweizerisches querdenkendes Online-Magazin. 

Estermann kennt Land und Leute, er lebte 17 Jahre in Peru und Bolivien. In Bolivien ist die Abwehrhaltung gegenüber Europa und den USA spürbar, analysiert Estermann, Bolivien und andere links regierte Länder suchen bewußt die Nähe zu anti-westlichen Staaten wie dem Iran und dem Brics-Bündnis.

Mit der Wahl des Bauern-Gewerkschafters Evo Morales 2005 zum Staatspräsidenten distanzierte sich Bolivien immer stärker vom Norden, sprich von den USA. Morales-Vorgänger Gonzalo Sanchez de Lozada flüchtete nach der Niederschlagung von Protesten in die USA, wie viele andere lateinamerikanische Politiker auch. 

Präsident Morales warf die US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde (DEA) aus dem Land. DEA-Beamte und bolivianische Sicherheitskräfte verhafteten in ihrem Kampf gegen die Drogen einst Morales, der sich mit seinen Koka-Bauern gegen die von den USA diktierten Anti-Drogenpolitik wandte.

Morales kündigte auch die Kooperation mit der US-Agentur für Entwicklungszusammenarbeit USAID auf und verwies den US-Botschafter des Landes. Jahrelang diktierte die US-Botschaft der bolivianischen Regierung die Politik, US-Bürgerinnen und -Bürger benötigen seit 2007 ein Visum für Bolivien.

Erstarken der indigenen Bevölkerung

In Bolivien stellen die indigenen Völker die Bevölkerungsmehrheit. Ihr Anteil liegt je nach Schätzung zwischen 53 und 66 Prozent. Mit der Wahl von Morales rückten die Aymara zum Staatsvolk auf und verdrängten erstmals in der langen Geschichte die Nachfahren der spanischen Eroberer von der Staatsspitze.

Morales und seine linke MAS-Bewegung verstaatlichte Niederlassungen internationaler Konzerne, meist aus den USA. Gleichzeitig belegte die Regierung die Gewinne der ausländischen Unternehmen mit hohen Steuern.

Ein “Cholet” in El Alto

Laut Estermann gibt es in Bolivien – einzigartig in Lateinamerika – keine Filiale von McDonald’s. Bolivien driftet auseinander. Angehörige der weißen Elite im östlichen Tiefland fliegen zum Einkaufen nach Miami, die neue Aymara-Bourgeoisie in der Boom-Stadt El Alto hoch über La Paz ein baut sich ein “Cholet”, beschreibt Estermann die in Bolivien angestoßene Entwicklung.

“Cholets”, eine Kombination aus den Wörtern Chalet und Cholo, erklärt Estermann, sind für europäische Begriffe kitschige vier- bis siebenstöckige Häuser mit einem chaletartigen Attikaabschluss. El Alto hat die Hauptstadt La Paz Einwohnerzahl mäßig überholt.

Seit 2009 enthält die neue Staatsverfassung auch die Weltanschauung und Ethik der indigenen Völker. Estermann verweist auf die Trilogie “Sei kein Dieb, sei kein Lügner, sei kein Faulenzer” und das Ideal des “Guten Lebens” (suma qamaña). 

Die 36 indigenen Völker und die afrostämmigen Bolivianerinnen und -bolivianer sind im plurinationalen Staat gleichgestellt, und ihre Sprachen sind neben dem Spanisch offiziell anerkannt. Präsident Morales knüpfte bewußt an der vorkolonialen Tradition an. So ließ er sich in der Inka-Ruinenstadt Tiwanaku von einem Schamanen in sein Amt einführen, das katholische Te Deum in der Kathedrale von La Paz blieb aus.

Selbstbewußt anti-westlich

Die Morales-Regierung und auch Luis Arce steuerten und steuern einen anti-westlichen Kurs. Statt wie bisher den spanischen Kolonialismus zu kritisieren, wird der westliche Neokolonialismus in die Kritik genommen. Dieser steht für die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch US-amerikanische und europäische Konzerne sowie für den “«kulturellen Imperialismus”, für die westlichen Werte wie Individualismus, Konkurrenzdenken, Prestige oder eben Fast Food.

Das sich Absetzen vom bisherigen Patron ist auch kulturell gefärbt. So erleben die Sprachen der Quechua und Aymara einen Aufschwung, “nicht zuletzt aufgrund der Verordnung, dass alle Beamten der öffentlichen Hand in der Lage sein müssen, die Bürgerinnen und Bürger in ihrer jeweiligen Muttersprache anzusprechen”, erklärt Estermann das Erstarken der indigenen Sprachen.

Estermann zitiert weitere Beispiele des neuen Weges, interkulturelle Spitäler, die neben der westlichen Schulmedizin auch die traditionelle Medizin von Schamanen oder Yatiris anbieten. Indigene Universitäten (auf dem Lehrplan andine Philosophie) und das bisherige spanisch geprägte Rechtssystem wird durch das “kommunitäre Recht” ergänzt.

Zur Förderung des indigenen Boliviens schuf Präsident Morales ein Ministerium für Dekolonisierung und eines für Interkulturalität. Ziel, den westlichen Einfluss zurückdrängen und indigene Werten aufzuwerten.

Statt Europa China und der Iran

Das neue Bolivien sucht offensiv die Nähe zu anti-westlichen Staaten, wie dem Iran, Russland und China. Autoritäre und illiberale Staaten, die mit ihren kulturellen, sprachlichen und nationalen Minderheiten alles andere als respektvoll umgehen. Westliche Staaten und westliche Konzerne erleichterten aber das bolivianische Absetzen.

Beispiel der Abbau von Lithium. Mit 23 Millionen Tonnen besitzt Bolivien die größten Vorkommen dieses Metalls, benötigt für die Produktion von Batterien für Elektroautos und für die Energiewende in Europa. 

Bolivien will nicht mehr – wie seit Jahrhunderten – unverarbeitete Rohstoffe exportieren. Der Anden-Staat drängt auf die Verarbeitung im eigenen Land. Laut Estermann sperrten sich westliche Länder gegen dieses Ansinnen. Bolivien wandte sich neuen Handelspartnern zu, Russland und China. Auch deshalb boomen die Sprachkurse in Mandarin und Russisch. Bolivien sucht seinen Fortschritt beim Oligarchen-Staat Russland und manchesterkapitalistischen KP-Land. Neue Partnerschaften strebt Bolivien an, eingehaltene Versprechen. Der Vorwurf auch, das Plündern der Bodenschätze verursachte große Umweltschäden, die die Biodiversität gefährden, die Konzerne hielten die Arbeiter in neuen Formen der Sklaverei bei Hungerlöhnen.

Eine Studie von mehreren NGO belegt aber auch, dass chinesische Unternehmen und ihre Investitionen genauso Land und Leute gefährden, besonders die indianischen Bevölkerungen.

Heuchlerischer und doppelzüngiger Westen?

Das linke Bolivien sieht die US-amerikanischen Kriege gegen den Irak und gegen Afghanistan – der Krieg gegen den Terror – als ungerechtfertigte Kriege. Die bolivianische Linke kümmerte sich nicht um die Verbrechen Saddam Husseins an der kurdischen und marsch-arabischen Bevölkerung, genauso wenig um die frauenfeindliche Diktatur der bärtigen Männer in Afghanistan.

Bolivien steht, wie viele andere Länder des sogenannten Globalen Südens, dem imperialistischen Russland und seinem Krieg gegen die Ukraine näher als der überfallenen Ukraine. Lateinamerika zeigt sich auch solidarisch mit der palästinensischen Hamas im Gaza-Krieg Israels. Nicht die Folge geopolitischer Allianzen, analysiert Josef Estermann, sondern “vielmehr Ausdruck eines grundsätzlich anti-westlichen Ressentiments.”

Besonders in Bolivien wird der Westen als arrogant und neokolonial empfunden, wegen seiner Doppelzüngigkeit. Freiheit und Selbstbestimmung gelten als westliche Werte, werden diese aber in Anspruch genommen, wird dies als unbotmäßiges Verhalten bestraft, erklärt Estermann. Beispielsweise mit Handelshemmnissen. 

Der Globale Süden, ergänzt Estermann, ist schon lange nicht mehr der unterwürfige und unkritische Kopierer westlicher Werte und Haltungen. Oder doch? Auch Evo Morales ließ indianischen Protest niederknüppeln, “Indigene wurden unterdrückt”, eine Kritik aus indigenistischen Kreisen.

Ob die neuen Freunde des “globalen Südens”, letztendlich auch ein Produkt des europäischen Kolonialismus, nur die alten Plünderer ersetzen?  

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