20-12-2021
„Wir Kinder der Südtirol-Autonomie“: Ein Land zwischen ethnischer Verwirrung und verordnetem Aufbruch
Von Wolfgang Mayr
Was ist Autonomie? Im nächsten Jahr feiert das „offizielle“ Südtirol ein halbes Jahrhundert Selbstverwaltung. Was hat diese mit dem „alltäglichen“ Leben zu tun, fragte sich Hans-Karl Peterlini. Der Südtiroler Bildungswissenschaftler Peterlini von der Universität Klagenfurt/Celovec schrieb darüber 2003 eine neue Heimatgeschichte.
Peterlini war in seiner Jugend in der Südtiroler Volkspartei engagiert, war kurzzeitig Journalist bei der Tageszeitung „Dolomiten“, wurde anschließend Redakteur der Wochenzeitung FF. Wegen seiner kritischen Berichterstattung über den damaligen Landeshauptmann Luis Durnwalder wurde er von den Herausgebern als Chefredakteur entlassen, er gründete das Konkurrenzblatt „Südtirol-profil“, um nach dem Scheitern dieses Experiments wieder als Chefredakteur in die FF zurückzukehren. Er nahm sein Studium der Bildungswissenschaften auf, verließ den Journalismus und arbeitet als Professor an der Universität in Klagenfurt/Celovec. Politisch näherte sich Peterlini den interethnischen Grünen an.
Für sein Buch über die Südtirol-Autonomie gab es gute Kritiken. So findet Armin Gatterer, leitender Beamter in der Südtiroler Landesverwaltung: „Es ist ein Buch für eine Nacht, wenn man davon nicht mehr wegkommt. Ein Buch, das den LeserInnen beheimatet und selbst jenen Heimat gibt, die mit unserem schönen kleinen Land manche Schwierigkeit haben,“ schreibt Armin Gatterer in der Wochenzeitung FF.
Peterlini zieht in „Wir Kinder der Südtirol-Autonomie“ die eigene Geschichte an jener der Heimat auf, schreibt Christoph Pichler in der „Süddeutschen Zeitung“: „Die Stadien individuellen Heranwachsens stellt er den einzelnen Schritten gegenüber, in denen die Entwicklung des Südtiroler Autonomiemodells voranschreitet.“
Ein Heimatbuch, das sich anlässlich des 50. Geburtstages der Autonomie im nächsten Jahr zum Nachlesen eignet. Peterlini denkt und formuliert „quer“, überrascht mit Geschichten und Lebensläufen, um die Autonomie zu erzählen und zu erklären. Aus dem Buch einige Auszüge:´
„Wir Kinder der Autonomie“- von 1969 bis 2002:
1969 nahm die SVP mit knapper Mehrheit das von (Parteiobmann und Landeshauptmann) Silvius Magnago mit der italienischen Regierung ausgehandelte „Paket“ an, 1972 traten die Paketmaßnahmen als Gesetz von Verfassungsrang in Kraft – das „zweite Autonomiestatut“.
Die Durchführung des Pakets verschleppte sich, es kam trotz großer Erfolge zu neuen Konfrontationen, einer neuen Attentatswelle, neuen Forderungen nach Selbstbestimmung und einem wachsenden Protest über die als zu starr empfundenen Schutzinstrumente.
An der ersten namentlichen Erhebung der Südtiroler nach Sprachgruppen, der Volkszählung 1981, entzündete sich der Kampf gegen die ethnische Teilung der Bevölkerung, „die neue Option“.
1992 wurde das Paket „abgeschlossen“, Österreich gab vor der UNO die „Streitbeilegungserklärung“ ab. 2001 beschloss der Gemeinderat von Bozen auf Antrag des italienischen Bürgermeisters, den nach Italiens Einmarsch 1918 benannten „Siegesplatz“ in „Friedensplatz“ umzubenennen, am 6. Oktober 2002 erreichte die Mehrheit der italienischen Bevölkerung bei einem Referendum die Rückbenennung in „Siegesplatz“.
Die „Bombenzeit“
Am Brenner, 1961, dem Jahr meiner Geburt, herrschte Ausnahmezustand. Die Südtirol-Attentate verwandelten diesen Marktflecken mit seinen Grenzgasthäusern, Kiosken, Gelati-Standln und Würstelbuden in ein Militärlager. Über die Grenze kamen die Waffen- und Sprengstofflieferungen für die Attentäter, oft von feschen jungen Müttern unter Windelpackungen versteckt; über die Grenze zogen sich die Helfer aus Österreich und Deutschland zurück, während hinter ihrem Rücken die Rohbauten für italienische Ansiedlungen einstürzten, faschistische Denkmäler in die Luft flogen und Strommasten umknickten.
Wie ich Italienisch gelernt habe, weiß ich nicht mehr. In meiner Erinnerung laufe ich mit Nadia zwischen abgestellten Waggons und Holzbaracken herum, sie spricht kein Wort Deutsch, ich kein Wort Italienisch. In meinem kindlichen Zeitgefühl dauerte es ein paar Stunden, höchstens Tage, bis ich mit Nadia Italienisch sprach. Bestimmt dauerte es länger, verstanden haben wir uns in der Geheimsprache der Kinder auf Anhieb.
Das „andere“ Südtirol
Für das Unterland war das italienische Trentino jahrhundertelang eine Nachbarprovinz, Teil des alten Tirols, mit Schützenkompanien, die in den Franzosenkriegen genauso verbluteten wie die Passeirer auf Südtiroler oder die Landecker auf Nordtiroler Seite.
Die nationalstaatliche Idee an der Schwelle des 20. Jahrhunderts trieb sich wie ein Keil zwischen die Menschen diesseits und jenseits der Salurner Klause. Die neue Maxime, wonach die Staatsgrenzen mit den Sprachgrenzen übereinzustimmen hätten, musste in einem Vielvölkerreich, wie es das alte Österreich war, ein ethnisches Knirschen auslösen.
Anschaulichster Ausdruck, wie nationale Gruppen des welschen und des deutschen Tirols gegeneinander Stellung bezogen, war der Denkmalbau in Bozen und in Trient – hier für Walther von der Vogelweide (1889), dort für Dante Alighieri (1896).
Die Trentiner Herkunft
Meine Großeltern väterlicherseits – Giovanni Peterlini und Giulia Bressan – waren noch unter Österreich vom Trentino ins deutschsprachige Tirol gezogen: zuerst nach Siebeneich, wo mein Vater 1912 geboren wurde, dann nach Gries bei Bozen, wo Nonno – radebrechend deutsch sprechend, aber bei den Weinbauern beliebt – zunächst Kellermeister war, bis sich eine neue berufliche Chance ergab
Nach dem Anschluss Südtirols an Italien mussten 1922 rund 90 % der Südtiroler Eisenbahner auswandern. Viele von ihnen waren in anderen Gebieten Altösterreichs geboren. Da die Eisenbahner meist sozialdemokratisch gesinnt waren, wurde ihnen von den konservativen Tiroler Gemeinden das behördliche Heimatrecht vorenthalten.
Wer es bis zum Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 nicht erhalten hatte, fiel nach dem Anschluss an Italien durch die Klauseln des Friedensvertrages von Saint Germain. Die meisten „roten“ Eisenbahner verloren Arbeit und Wohnrecht, von der italienischen Verwaltung verdrängt und vom konservativen Deutschen Verband nicht verteidigt. Nonno bekam eine Stelle bei der Bahn in Bozen. Nonna riet ihm dazu, das sei eine Lebensstelle.
Die Entdeckung der Vergangenheit
Ich habe meinen italienischen Großvater, 1957 gestorben, nicht mehr gekannt, mein Vater hat mir von ihm in wenigen überlieferten Anekdoten das Bild einer urgemütlichen anspruchslosen Persönlichkeit vermittelt. Meine Nonna verbrachte, seit wir in Neumarkt eine größere Dienstwohnung hatten, die Sommer bei uns.
Eine Beziehung zum Trentino gab es aber nie. Nicht ein einziges Mal bin ich mit meinen Eltern an den Herkunftsort der Peterlinis gefahren. Manchmal habe ich meinen Familiennamen groß auf Bussen gelesen: Ein uns unbekannter Peterlini führt am Gardasee ein Reiseunternehmen, das dem Fuhrpark nach recht erfolgreich sein muss. Später hat mir ein väterlicher Freund, der Roveretaner Rechtsanwalt Sandro Canestrini (antifaschistischer Widerstandskämpfer, Kommunist und Verteidiger der Südtirol-Attentäter), von jenem unwirtlichen Gebirgstal bei Rovereto erzählt, wo es von Peterlinis wimmelt.
Du musst hingehen“, sagte er, „aber zieh dir feste Schuhe an.“
Weitere Leseproben aus „Wir Kinder der Südtirol-Autonomie“ von Hans-Karl Peterlini:
Wir Kinder der Südtirol-Autonomie (1)
Wir Kinder der Südtirol-Autonomie (2)
SHARE