07-12-2024
Wie viel Blut muss fließen?
Jan Diedrichsen kritisiert in seiner Kolumne, dass Europa tatenlos zusieht, während in Georgien Demonstrierende von der Polizei brutal behandelt werden.
Von DerFuchs - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, +
Erschienen als Kolumne VOICES – MINDERHEITEN WELTWEIT im „Der Nordschleswiger“
Von Jan Diedrichsen
“Wie viel Blut muss fließen, bis du deine Arme schützend um einen legst? Wie lange kannst du dir noch einreden, dass du keine Kriege mehr führst, bis du anerkennst, dass du sie nur ausgelagert hast? … Aber Europa, deine Ränder schmelzen, und die Albträume kriechen über die Schutzmauern.
Die Welt zieht eine immer engere Schlinge um dich. Denn die anderen Länder sind nicht so gut erzogen wie du. Während du dich noch an gutbürgerlichen Tischmanieren mit Silberbesteck abarbeitest, isst dein großer, dein unersättlicher Nachbar längst mit den Händen, schmatzt dabei, das Fett und das Blut rinnt ihm das Kinn hinunter, er isst und isst und das Paradoxe dabei: Sein Hunger wird immer größer, je mehr er isst, desto mehr will er haben.
Und so lass mich wissen, Europa, bitte sag es uns: Wie viele Opfer brauchst du noch als Beweis unserer Liebe?”
Diese Worte von Nino Haratischwili, gelesen in der FAZ, haben mich nachdenklich gemacht. Sie bringen eine bedrückende Realität auf den Punkt: Europas Ränder schmelzen, während Russland seine Macht gewaltsam ausweitet (1992 in Abchasien und Ossetien, 1994 und 1999 in Tschetschenien, 2008 in Georgien, 2014 auf der Krim, 2022 mit dem Einmarsch in die Ukraine).
Und Europa? Es schaut zu, vielleicht auch weg, gefangen in seinen eigenen Krisen und Zweifeln.
In Tiflis protestieren seit Tagen Tausende gegen eine Regierung, die sich mehr an den Kreml als an die Europäische Union orientiert. Die Regierung des „Georgischen Traums“ hat Gesetze verabschiedet, die NGOs und freie Medien knebeln sollen. Sie hat die EU-Beitrittsgespräche auf Eis gelegt und damit die Hoffnungen einer ganzen Nation zerstört. Die Polizei reagiert mit brutaler Gewalt, Premierminister Irakli Kobachidse droht offen, die Opposition „auszulöschen“.
Europa schaut zu, wie in Georgien Freiheit und Demokratie auf dem Spiel stehen. Aber dies ist keine isolierte Krise. Es ist ein weiterer Vorstoß Russlands, ein weiterer Versuch, seinen Einfluss an den Rändern Europas auszudehnen. Haratischwilis Worte erinnern uns daran, dass diese Ränder nicht von uns getrennt sind. Sie sind Teil Europas. Und wenn wir sie aufgeben, geben wir auch unsere Werte und schlussendlich unsere Sicherheit auf.
Die Demonstrierenden in Tiflis kämpfen für Europa – vielleicht mehr als viele Europäerinnen und Europäer selbst. Sie zeigen uns, dass Freiheit kein Geschenk ist, sondern immer wieder neu verteidigt werden muss. Sie ist ein Versprechen, das uns alle verbindet: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Würde.
Europa muss jetzt handeln, denn Haratischwilis Frage bleibt: Wie viel Blut muss noch vergossen werden? Es geht hier nicht nur um Georgien oder die Ukraine. Es geht um uns. Um den Kern dessen, was wir sind. Und um den Mut, ihn auch in schwierigen Zeiten zu verteidigen.
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