18-07-2023
Arzach: Langsamer Erstickungstod
Die Ereignisse in und um Arzach (Berg-Karabach) spitzen sich dramatisch zu. Trotz diverser Appelle ausländischer Spitzenpolitiker an Aserbaidschan, seine seit Dezember 2022 über die Region verhängte Blockade aufzuheben, trotz eines gleichlautenden Beschlusses des Internationalen Gerichtshofs setzt Aserbaidschan nicht nur seine Blockade unbeeindruckt fort, sondern verschärft sie.
„Wir ergeben uns nicht!“ Demonstration vom 12. Juli 2023 in Stepanakert (Foto: Anna Babayan, Civilnet)
Von Tessa Hofmann
Am 11. Juli 2023 verwehrte Aserbaidschan dem Internationalen Roten Kreuz (IRK) den Zugang zum Latschiner Korridor mit der Behauptung, dass Mitarbeiter des IRK in dessen Transportwagen Zigaretten, Mobiltelefone und Benzin nach Arzach schmuggeln würden – ein Vorwurf, den das IRK entschieden zurückwies.
Doch damit nicht genug. Am 8. Juli 2023 wurde zwar die Gasversorgung zum ersten Mal seit dem 21. März 2023 kurzzeitig wiederhergestellt, nur um dann einige Stunden später wieder abgeschaltet zu werden. Aserbaidschan hat die Erdgas- und Stromversorgung von Arzach während der gesamten Dauer der Blockade regelmäßig unterbrochen. Arzach erhält sein Erdgas und seinen Strom aus Armenien über Leitungen, die durch aserbaidschanisch kontrolliertes Gebiet verlaufen.
Der EU-Sonderbeauftragte für den Südkaukasus, Toivo Klaar, twitterte, dass ein „Tag, der vielversprechend begann, wieder in Enttäuschung und Frustration endete“. „Wie die EU mehrfach betont hat, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Energielieferungen sowie der Personen- und Warenverkehr über den Latschin-Korridor ohne Einschränkungen wiederhergestellt werden“, so Klaar. Aber Aserbaidschan ist sich sicher, dass weder die EU, noch einzelne Staaten bei Zuwiderhandlungen Sanktionen gegen das Land verhängen werden.
In einem auf der regierungsnahen aserbaidschanischen Nachrichtenseite Qavqaz.az veröffentlichten Meinungsartikel hieß es, die Gasversorgung sei wiederhergestellt und dann abgeschaltet worden, um die Bewohner von Arzach unter Druck zu setzen, die aserbaidschanische Kontrolle über die Region zu akzeptieren. „Durch die Wiederaufnahme des offiziellen Gastransports von Baku wird der armenischen Bevölkerung gezeigt, dass sie mit allem versorgt wird, wenn sie sich wieder in Aserbaidschan integriert“, heißt es in dem Artikel.
Der Berater des Staatsministers von Arzach, Artak Beglarjan, schloss diese Möglichkeit kategorisch aus. „Die aserbaidschanischen Behörden müssen begreifen, dass der Entzug von Gas, Strom, Treibstoff und Lebensmitteln uns weder unsere natürlichen Rechte nehmen noch unseren Geist und unseren Freiheitswillen brechen kann“, so Beglarjan. Das sind stolze und mutige Worte, besonders wenn man berücksichtigt, dass die Region soeben Russland als Schutzmacht zu verlieren droht.
Geram Stepanjan, der Menschenrechtsbeauftragte der Arzacher Regierung, äußerte am 12. Juli 2023 verzweifelt: „Die gesamte Bevölkerung von Arzach ist vom Hungertod bedroht, und die internationalen Akteure unternehmen nichts außer Erklärungen. Ich fordere das Internationale Komitee vom Roten Kreuz auf, den roten Alarmknopf für die Gefahr eines Völkermordes zu betätigen. Mein Volk wird durch die kriminelle Gleichgültigkeit aller verraten.“
Russischer Rückzug?
Am 15. Juli 2023 forderte das russische Außenministerium die Führung Aserbaidschans „nachdrücklich“ auf, „dringende Maßnahmen zur sofortigen Freigabe des Latschin-Korridors zu ergreifen“. So berichtet es die staatliche armenische Nachrichtenagentur ARMENPRESS, gestützt auf eine Mitteilung des russischen Außenministeriums. Das Außenministerium begründet dies mit der sich dramatisch verschärfenden humanitären Krise in Arzach: „Die Bevölkerung leidet unter einem akuten Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und lebensnotwendigen Gütern und ist praktisch ohne Strom und Gas. Dies kann dramatische Folgen für die Armenier in Karabach, die einfachen Bewohner der Region, haben.“
Zugleich aber lässt die Mitteilung einen Paradigmenwechsel in der russischen Arzachpolitik erkennen. Anscheinend will man die Verantwortung für die Region, die Russland mit dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 auf sich genommen hat, auf Armenien abwälzen. Ob damit auch die prowestliche Orientierung von Regierungschef Nikol Paschinjan abgestraft werden soll, sei dahingestellt. Das russische Außenministerium begründet seinen Schritt damit, dass die Republik Armenien selbst Bergkarabach bei den Treffen unter der Schirmherrschaft der EU im Oktober 2022 und im Mai 2023 als Teil Aserbaidschans anerkannt habe.
„Wir respektieren die souveräne Entscheidung der armenischen Führung, aber sie hat die grundlegenden Bedingungen, unter denen die Erklärung der Führer Russlands, Armeniens und Aserbaidschans am 9. November 2020 unterzeichnet wurde, sowie den Status der in der Region stationierten russischen Friedenstruppe radikal verändert. Wir sind der Meinung, dass unter diesen Bedingungen die Verantwortung für das Schicksal der armenischen Bevölkerung Karabachs nicht auf Drittstaaten übertragen werden darf. Es ist notwendig, unverzüglich mit der Vorbereitung des Friedensvertrags zwischen Baku und Jerewan auf der Grundlage der zuvor getroffenen Vereinbarungen zu beginnen“, erklärte das russische Außenministerium.
Ebenso wenig wie in den Äußerungen westlicher Spitzenpolitiker ist auch bei den russischen Entscheidungsträgern keine Rede von einem Selbstbestimmungsrecht der Arzacher Armenier. Alle Seiten gehen davon aus, dass Armenien grundsätzlich die Abtretung der Region an Aserbaidschan anerkannt hat und dass sich die dortige Bevölkerung zu fügen hat – so wie schon 70 Jahre lang unter sowjetischer Zwangsherrschaft. Die dazu nicht bereit sind, werden ihre Heimat oder ihr Leben verlieren.
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