31-08-2021
Weißrussland
Von Wolfgang Mayr
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt einigten sich NS-Deutschland und die Sowjetunion auf die Aufteilung des östlichen Mitteleuropas. Ein besonders Opfer dieses Pakts war Weißrussland, ein „bloodland“, wie es der us-amerikanische Historiker Timothy Snyder beschrieb. Bereits 1989 griff die GfbV die verratenen Völker dieses Pakts in der „pogrom“-Taschenbuch-Reihe auf. Schwerpunkt heute Weißrusslands:
Unterdrücken, deportieren, auslöschen – Weißrussen unter polnischem Regime, Stalinismus und Nationalsozialismus
Von Tilman Zülch, Johannes Vollmer
Die Benachteiligung des Weißrussischen hat Tradition in Polen. Bereits nach dem Zusammenschluss Polens und Litauens zu einem osteuropäischen Großreich wurde das Weißrussische 1696 als Amtssprache durch das Polnische ersetzt. Zuvor hatte es seit dem 14. Jahrhundert im litauischen Großfürstentum den Status einer offiziellen Sprache genossen. Nach den polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 fielen die weißrussischen Länder dem russischen Zarenreich zu. Die adlige Oberschicht bediente sich des Russischen. Russisch wurde Amtssprache, Weißrussisch blieb die Muttersprache der einfachen Leute. Im Zarenreich galten die Weißrussen als russischer „Stamm“. Doch bereits im 19. Jahrhundert kam es zu einer kulturellen Bewegung der „weißrussischen Wiedergeburt“, die Revolution von 1905 gab dieser weißrussischen Bewegung neuen Auftrieb.
Nach der Russischen Revolution von 1917 erklärte der auf dem „AlIweißrussischen Kongreß“ gebildete „Rat der Weißrussischen Volksrepublik“ in Minsk Weißrußland am 25. März 1918 zum unabhängigen Staat. Doch dieser wurde im Krieg zwischen dem neu entstandenen Polen und der Sowjetunion aufgeteilt. Der Westen wurde polnisch, im Osten entstand eine weißrussische Sowjetrepublik. Das wiederentstandene Polen orientierte sich zwar an dem polnischen Vielvölkerstaat von 1772 und schob seine Grenzen in litauisch, weißrussisch, ukrainisch und deutsch besiedelte Regionen vor. Die Staatskonzeption blieb chauvinistisch. Die „Minderheiten“, die über ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, wurden unterdrückt. Kaum ein anderer Staat Europas diskriminierte zwischen 1918 und 1933 die jüdische Minderheit so offen wie der polnische.
Die zeitgenössischen polnischen und weißrussischen Statistiken gehen weit auseinander, was die Zahl der weißrussischen Bürger Polens betrifft. Nach polnischen Regierungsangaben von 1921 waren allein 22 % der Gesamtbevölkerung der weißrussisch bewohnten Gebiete orthodoxe Polen; weißrussische Katholiken wurden ohnehin als Polen betrachtet. Nach der polnischen Statistik hätten 1921 1.001.879 Weißrussen in Polen gelebt, nach weißrussischen Angaben 2,5 Millionen. Obwohl in den Verträgen von Versailles (Art. 2) und Riga (Art. 7) und der Verfassung der polnischen Republik (Art. 111-116) den Weißrussen eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Eigenentwicklung in Polen zugestanden worden war, wurden von den polnischen Behörden allein von den bei der Annektion vorgefundenen 400 weißrussischen Schulen bis zum März 1923 alle bis auf 37 geschlossen. Gleichzeitig waren dort 3.380 überwiegend in der Nachkriegszeit eingerichtete polnische Schulen eröffnet worden. 1925/26 war die Anzahl der weißrussischen Elementarschulen bereits auf 25 gefallen.
Assimilierende katholische Kirche
Auch die katholische Kirche Polens beteiligte sich an der Polonisierung der weißrussischen Bevölkerung. Die in Polen etwa eine Million Angehörige zählende weißrussische Kirche, die das Polnische als Kirchensprache benutzte, galt ohnehin als polnisch. Bestrebungen, das Weißrussische wiedereinzuführen, wurden von den polnischen Bischöfen unterdrückt. 1928 verbot Bischof Jaberzykowski von Wilna den weißrussischen Katholiken sogar die Zugehörigkeit zur Christlich-Demokratischen Weißrussischen Partei Polens sowie das Lesen ihres Organs „Bielaruskaja Krynica“. In den weißrussischen Gemeinden wurden vornehmlich polnische Priester eingesetzt, die weißrussischen wurden in das polnische Sprachgebiet versetzt. Die orthodoxe Kirche war sowohl in den ukrainischen wie in den weißrussischen Gebieten im Zwischenkriegspolen schweren Verfolgungen ausgesetzt. Nach Angaben der Organisationen der beiden Minderheiten wurden 1.300 orthodoxe Kirchen in katholische umgewandelt, teilweise mit Blutvergießen. Schließlich sollte auch die polnische Militärkolonisation im polnischen Teil Weißrußlands das Weißrussentum weiter schwächen.
Als Kolonisationsobjekte wurden ehemalige Ländereien des Zarenreiches sowie Land genutzt, das früher Klöstern und Kirchen gehört hatte. Sehr selten wurde auch polnischer Großgrundbesitz aufgeteilt, obwohl nach der amtlichen polnischen Statistik in Westweißrußland 88 % des Großgrundbesitzes auf Polen und nur 1,4 % auf Weißrussen entfiel. Durch die Ansiedlung polnischer Bauern wurde die Polonisierung weiter vorangetrieben. Auch die Verwaltung der weißrussischen Gebiete lag fast ausschließlich in Händen polnischer Beamter, die aus dem polnischen Sprachgebiet hierher versetzt wurden.
Sowjetische Angliederung Ostpolens an Weißrussland
Bis heute wird ernsthaft von manchen sowjetischen Historikern und Publizisten der sowjetische Einmarsch in Ostpolen mit dem Schutz Westweißrußlands und der Westukraine begründet. Dabei hatte Molotow damals dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg in aller Offenheit erklärt, mit der Begründung, die Sowjetunion müsse den „von Deutschland ‚bedrohten Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe kommen“, sollte „den Massen das Eingreifen der Sowjetunion plausibel gemacht und gleichzeitig vermieden werden, daß (die) Sowjetunion als Angreifer erscheint“.
Weil der deutsche Entwurf eines gemeinsamen Kommuniques anläßlich des sowjetischen Einmarsches am 17.9.1939 „den Tatbestand mit allzu großer Offenheit darlege“, wurde er von Stalin zurückgewiesen, der selbst einen neuen Entwurf anfertigte. Tatsächlich wußte dann auch die okkupierte Bevölkerung in den ersten Tagen nach dem Einmarsch nicht, ob sie die Sowjetarmee als Unterstützung im Kampf gegen Deutschland bzw. als Schutzmacht gegen die Deutschen oder aber als Besatzer anzusehen hatte; den Anschein von Hilfe zu erwecken, war aber von sowjetischer Seite eben beabsichtigt.
Offensichtlich wurde das Interesse der Sowjetunion dann durch die Scheinwahlen vom Oktober 1939, die den Anschluß Westweißrußlands an die Weißrussische SSR herbeiführten, offensichtlich aber auch durch die bald zahlreichen Verhaftungen und seit Februar 1940 beginnenden Massendeportationen von „Volksfeinden“, die aus den neu eroberten Gebieten zu Vernichtungsstätten wie Kuropaty in Zentralweißrußland gebracht wurden. Sprecher neuer weißrussischer Bewegungen werfen Stalin heute Völkermördverbrechen am weißrussischen Volk vor.
„Generalplan Ost“ – Nationalsozialistischer Ausrottungskrieg
Der nationalsozialistische Krieg gegen die Sowjetunion war von allem Anfang an keine militärische Auseinandersetzung, bei der es, wie im Westen, um den Sieg über die feindlichen Armeen ging. Es war ein Ausrottungs- und Eroberungskrieg der „überlegenen“ arischen Herrenrasse gegen die „minderwertige“ slawische Rasse des Ostens, der als Kolonialgebiet auszubeuten war – und es war ein Weltanschauungskampf gegen den „Bolschewismus“.
Der Vormarsch der Heeresgruppe Mitte durch Weißrußland von Brest über Baranovice, Minsk, Witebsk, Smolensk, Mogilew, Orscha bis vor Moskau war begleitet von Todeslagern und Massengräbern. In dem im August 1941 errichteten Kriegsgefangenenlager Nr. 337 bei Baranovice wurden 88.407 Menschen ermordet: zuerst durch Erfrierung, Verhungern und Erschießung bei Schwäche, ab 1942/43 durch Gaswagen. Allein in einem der in Witebsk errichteten fünf KZs wurden von Exekutionskommandos in der ersten Woche 60.000 Gefangene erschossen.
Beim Rückzug sollte durch „verbrannte Erde“ alles für die Bevölkerung Lebenswichtige zerstört werden: Industrieanlagen, Wohnhäuser und Transportmittel, Ernte und Vorräte. Die Zerstörungsgewalt, die dieser Vernichtungskrieg innerhalb von drei Jahren zeigte, vermittelt eine Ahnung davon, welche langfristige Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik den Völkern im Falle eines Sieges Nazideutschlands bevorgestanden hätte. „Den osteuropäischen Völ.kern sollte nicht nur die eigene Staatlichkeit vorenthalten werden; sie sollten auch ihrer geistigen Führungsschicht beraubt, durch Exekution, Vertreibung, inhumane Gesundheitspolitik, durch „Auslaugung“, d.h. Raub der „rassisch wertvollen“ Menschen, dezimiert, durch eine destruktive Schulpolitik in einem geistigen Dämmerzustand gehalten, alles in allem zu einem niederen Helotendasein herabgedrückt werden“.
Der „Generalplan Ost“ des SS-Reichssicherheitshauptamtes von 1941, den Himmler hatte ausarbeiten lassen, sah für Weißrußland vor, daß 75 % seiner Bevölkerung „ausgesiedelt“ und 25 % „eingedeutscht“ werden sollte. Die Pläne zur Ausbeutung der besetzten Gebiete, denen Hitler zustimmte, waren die des Henkers Himmler. In seiner Rede vor SS-Gruppenführern in Posen am 4.10.1943 sagte Himmler: „Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht“. Dies war das Schicksal, das der Bevölkerung Weißrußlands und den anderen slawischen Völkern zugedacht war.
Jüdische Minderheiten – Die Vernichtung
Am 22. Juni 1941 überschritten die Truppen der Deutschen Wehrmacht die sowjetisch-deutsche Teilungslinie in Polen. Schon bald nach dem deutschen Einmarsch begannen speziell ausgebildete Mordkommandos der SS, die sogenannten „Einsatzgruppen“, mit der systematischen Ausrottung der Juden in den Städten und Dörfern des ehemaligen Ostpolen. Die jüdische Bevölkerung wurde auch hier, wie im übrigen Europa, nicht einmal als Sklavenvolk von Zwangsarbeitern betrachtet, sondern sollte kollektiv ausgelöscht werden.
In dieser im Norden mehrheitlich weißrussisch, im Süden vornehmlich ukrainisch bewohnten Region hatten die sowjetischen Okkupationstruppen 1939 eine jüdische Volksgruppe von 1,3 Millionen Menschen vorgefunden. Weitere etwa 250.000 Juden waren noch vor der Schließung der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie vom westlichen in das östliche Polen geflüchtet.
Die jüdische Bevölkerung stellte in vielen ostpolnischen Städten erhebliche Teile der Bevölkerung, so z.B. in Wilna 28%, in Grodno 42%, in Brest-Litowsk 52%, in Kowel 61 %, in Pinsk 75%, in Przemysl 34%, in Tarnopol 44% und in Lemberg 33%. Allein die ostgalizische Stadt Lemberg hatte bei der polnischen Volkszählung von 1931 99.600 jüdische Einwohner.
Unter den Hunderttausenden von Stalin in sibirische Arbeitslager deportierten Bewohnern Ostpolens befanden sich auch zehntausende Angehörige der jüdischen Volksgruppe. Nach der Schließung der im Hitler-Stalin-Pakt definierten Demarkationslinie wurden Juden aus dem Machtbereich Hitlers mit Gewalt an der Flucht nach Ostpolen gehindert und zurückgejagt. In dem im Juni 1940 von sowjetischen Truppen besetzten Bessarabien verbot man zunächst alle jüdischen Institutionen, und am 13. Juni 1941 wurden viele der jüdischen Führer und besonders wohlhabende Juden nach Sibirien verschleppt, wo viele von ihnen ums Leben kamen. Nach der sowjetischen Annektion der baltischen Länder wurden auch Angehörige der jüdischen Minderheiten, wie die Balten, von den stalinistischen Deportationswellen erfaßt. Allein aus Estland wurden 500 geistliche Führer nach Sibirien verschleppt, dazu kamen zahlreiche sogenannte „kapitalistische“ Juden. Nur wenige kehrten aus den sibirischen Lagern zurück.
Nach dem Rückzug der Roten Armee ermordete die SS unter dem Schirm der deutschen Truppen in Massenexekutionen an Ort und Stelle die jüdische Bevölkerung. Juden, derer man habhaft werden konnte, sollten vernichtet werden. „Keine Familie sollte verschont werden. Auch sollten keinerlei Energien darauf verschwendet werden, Ghettos einzurichten und Juden über weite Strecken in Lager oder zu Erschießungsplätzen zu transportieren. Die Ermordungen sollten in den jeweiligen Städten und Dörfern im Augenblick des militärischen Sieges durchgeführt werden.“ Jeder SS-Einsatzgruppe wurde ein bestimmtes Gebiet zugewiesen. „So war die Einsatzgruppe A für die Vernichtung der Juden in den baltischen Ländern zuständig, während die Einsatzgruppe D in der Ukraine (…) tätig werden sollte.“
Nach der Wannsee-Konferenz (20.1.1942) errichteten die Nazis die Vernichtungslager Belsec, Treblinka und Sobibor. Schon wenige Stunden nach ihrem Eintreffen wurden die jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die das Wüten der SS-Kommandos überlebt hatten, in diesen Todeslagern vernichtet. „Während die SS damit fortfuhr, Juden in Todes- und Arbeitslager zu deportieren, setzten die Juden selbst ihre Versuche fort, in Wälder und Gehölze zu fliehen.“ Widerstandsaktionen einzelner jüdischer Partisanengruppen, die sich auch in verschiedenen Regionen des Baltikums und Ostpolens bildeten, wurden vor allem dadurch erschwert oder unmöglich gemacht, daß die jüdischen Minderheiten unbewaffnet waren und „umgeben von einer extrem feindseligen Landbevölkerung, von der sie bisweilen schon angegriffen wurden, noch ehe die Mordkommandos eintrafen.“
So wurde in vielen Städten und Dörfern Litauens die Massenvernichtung der jüdischen Minderheiten durchgeführt, bevor die nationalsozialistischen Einsatz- oder Deportationskommandos eingetroffen waren. In Lettland hatten einheimische Faschisten, die lettische Polizei und Ordnungsdienste auf eigene Faust und ohne deutsche Befehle Tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer hingerichtet. Abertausende Letten und Litauer, unter ihnen Geistliche und Intellektuelle, waren Zeugen der Judenmorde und schwiegen dazu. Die Deutschen hatten ferner über 200.000 Juden aus Westeuropa zur Vernichtung nach Lettland deportiert.
Zahlreiche Letten, Litauer und Esten, Ukrainer und Polen stellten Teile des Personals der Vernichtungslager. Die polnische („blaue“) Polizei leistete der SS nicht nur „Hilfsdienste wie in anderen besetzten Ländern auch, sondern ging von sich aus auf die Jagd und veranstaltete in eigener Regie Judenexekutionen.“ In Polen konnten die Nationalsozialisten nicht nur auf das Stillhalten einer terrorisierten Bevölkerung zählen, sondern auch auf die Komplizenschaft großer Bevölkerungsteile“, schrieb der französisch-jüdische Autor Marc Hillel 1985 in seinem Buch „Le massacre des survivants en Pologne 1945-47“.
In Ostgalizien fielen häufig ukrainische Bauern über die Juden her und ermordeten Hunderte von ihnen, noch ehe die deutschen Mordkommandos eintrafen. Nach der Wiederbesetzung Bessarabiens durch die Deutschen im Juli 1941 ließ die rumänische Regierung die Juden ins ukrainische, von Rumänen besetzte Transinistrien deportieren. 148.000 Menschen erfroren, verhungerten, starben an Krankheiten oder fielen den Brutalitäten ihrer rumänischen und deutschen Bewacher zum Opfer. Rumänische Faschisten hatten im Juli und August 1941 in der ganzen Provinz Vernichtungslager eingerichtet und Tausende von Juden ermordet.
Die Mittäterschaft von Angehörigen jener Völker, die selbst Opfer Stalins und Hitlers waren, an der Judenverfolgung vermindert die Schuld des nationalsozialistischen Deutschland am Holocaust keineswegs, doch auch die nicht-deutsche Verantwortung für diesen Völkermord sollte nicht länger der Tabuisierung anheimfallen. Auch diese Völker dürfen nicht nur das eigene Leid, sie müssen auch die eigene Schuld öffentlich machen. Eine echte Versöhnung der Völker und Volksgruppen Europas dürfte sonst kaum möglich sein.
Die überlebende jüdische Bevölkerung dieser Regionen verließ den europäischen Kontinent, sofern sie konnte. Sie ging nach Amerika oder Palästina. In Polen setzte noch einmal zwischen 1945 und 1948 eine panische Fluchtwelle der überlebenden etwa 250.000 Juden ein, nachdem bei verschiedenen Pogromen erneut 1.500 Juden von Polen ermordet worden waren.
Es gab nicht nur Opfer
Ein Teil der Bevölkerung aus den von Hitler großzügig Stalin überlassenen Ländern und Landesteilen verstand sich in dieser Zeit nicht ausschließlich als Opfer: So hatten einheimische Kommunisten in Lettland, Litauen, Ostpolen oder Bessarabien 1939/40 sehr schnell mit den neuen Machthabern paktiert und es war den Sowjetischen Behörden in Ostpolen und Bessarabien geglückt, verschiedene Nationalitäten gegeneinander auszuspielen. So nutzten baltische und ukrainische Chauvinisten die Kollaboration einzelner jüdischer Kommunisten mit Stalin als perverse Legitimation für ihre Unterstützung des nationalsozialistischen Holocausts.
Diese Zusammenarbeit von Angehörigen der betroffenen Völker sowohl mit Stalin als auch mit Hitler schwächte den Widerstand. „Schon ein Sandkorn blockierte das Wunderwerk der scheinbar perfekten Vernichtungsmaschinerie“, beschreibt der französische Philosoph Andre Glucksmann den Widerstand gegen den Holocaust in Bulgarien und Dänemark. Hier scheiterten alle Völkermordpläne der Nazis an der Gegenwehr dänischer und bulgarischer Regierungsstellen, Parteien und Berufsgruppen. Hätte die Solidarität der von Stalin und Hitler bedrohten Völker Osteuropas wenn schon nicht die Unterwerfung verhindern, so doch die Ausmaße der Deportationen, der „Klassen“-, „Rassen“- und Völkermorde der Jahre 1939-53 vermindern können?
Doch die Schergen Hitlers und Stalins hatten in vielen Ländern Osteuropas keine Schwierigkeiten, Sympathisanten, Helfershelfer und Kollaborateure zu rekrutieren. Kroatische Ustaschas, slowenische Heimwehren, tschechische Kollaborateure, polnische Blaue Polizisten, bosnische, ukrainische und baltische SS einerseits und, wie gesagt, einheimische Kommunisten andererseits. In vielen nationalsozialistischen Vernichtungslagern dienten Osteuropäer der Tötungsmaschinerie. Einheimische Kommunisten waren an der Vorbereitung stalinistischer Deportationen beteiligt.
Verweigerte Selbstbestimmung
Schon die Entstehung der osteuropäischen Staaten nach dem 1. Weltkrieg aus den drei Kaiserreichen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland stand nicht nur unter dem Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes symbolisiert durch die 14 Punkte Wilsons. Die Siegermächte sahen zu, wie entgegen hehren Prinzipien 6 Millionen Ukrainer Polen, 2 Millionen Ungarn Rumänien, 3 Millionen Sudetendeutsche der Tschechoslowakei zugeschlagen und die Gebiete vieler anderer Volksgruppen annektiert wurden und nahmen in Kauf, daß das Selbstbestimmungsrecht der Slowaken, Kroaten, Slowenen oder Ukrainer- sei es als regionale Autonomie, sei es als Eigenstaatlichkeit – mißachtet wurde.
Getreu der Befürchtung Grillparzers über den aufkommenden Nationalismus der k.u.k.-Nationalitäten des alten Österreich „von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“ begannen die Armeen der neu entstandenen Nationen nach dem Ersten Weltkrieg, kaum aufgestellt, schon mit Raubzügen gegen Nachbarstaaten. Litauen brach ins internationalisierte ostpreußische Memelland ein, Polens Armee besetzte die litauische Hauptstadt Wilna und trug wie auch die „Weiße“ und „Rote“ Armee zur Zerstörung der neu entstandenen ukrainischen Republik bei.
Polen schließlich beteiligte sich noch im Jahr vor dem deutschen Überfall an der Hitlerschen Aufteilung der Tschechoslowakei, marschierte ins tschechoslowakische Olsagebiet ein. In dieser ethnisch gemischten Region führte die polnische Regierung eine makabre „Volksgruppenpolitik“ gegenüber den Polnischstämmigen ein, die der späteren NS-Politik gegenüber Deutschstämmigen in Polen entsprach. Nationalitätenstaaten wie Polen, Rumänien oder die CSR, deren Bevölkerung zur Hälfte oder einem guten Drittel nicht zu den Staatsvölkern gehörte, gaben sich als Nationalstaaten.
Minderheitenschutz verlangte man in der Regel für die eigene Ethnie beim Nachbarn, versagte sie aber den Minderheiten daheim. Die übergreifende europäische Bewegung der nationalen Minderheiten – in den 20er Jahren zusammengeschlossen im Europäischen Nationalitätenkongreß – scheiterte letztlich an diesen Widersprüchen. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und der einsetzenden Instrumentalisierung der deutschen Minderheiten vom Baltikum bis Rumänien und der Etablierung autoritärer bis faschistoider Regimes in allen Staaten Osteuropas mit Ausnahme der Tschechoslowakei war die Entwicklung über die europäische Minderheitenbewegung hinweggegangen. Ein einziger Staat Osteuropas, Estland, hatte eine vorbildliche Nationalitätenregelung geschaffen – alle anderen hatten dabei versagt, ein erträgliches Miteinander zu realisieren. Stalin und Hitler sahen sich also einem Osteuropa gegenüber, das denkbar schlecht auf die beiden Imperialismen vorbereitet war.
Aufstand verratener Völker
In den 50 Jahren seit der gemeinsamen Unterdrückung der Völker durch den Stalinismus sollten alle gelernt haben. Als sich im Frühjahr 1989 die Nomenklatura gegen die Konstituierung der neuen weißrussischen Volksfront zur Wehr setzte und diese aus Minsk in das benachbarte Wilna floh, um dort ihre Gründung vorzunehmen, zeigte sich der „neue Geist“. Die baltischen, ukrainischen und weißrussischen Volksfronten treten heute dezidiert für die Rechte der in ihren Ländern lebenden Minderheiten ein. Nach neueren Umfragen billigen inzwischen in Lettland sogar zwei Drittel der eingewanderten russischen Einwohner die Politik der lettischen Volksfront, während die sogenannten Interfronten zu Organen der jeweils regionalen Nomenklatura geworden sind. Erste Anzeichen der Vernunft zur Nationalitätenfrage zeigen sich auch in Polen. So fordert die neue polnische Regierung nicht nur die kulturelle Autonomie für die polnische Gemeinschaft in Litauen. Noch vor dem letzten Regierungswechsel hatten polnische Regierungsstellen und der Kardinal und Primas von Polen Jozef Glemp erklärt, in Polen gäbe es keine Deutschen mehr. Inzwischen werden dort jetzt zaghaft erste deutsche Minderheitenvertretungen zugelassen.
Die Staaten Westeuropas sind in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch die Gründung der EG, auch in der Nationalitätenfrage aufeinander zugegangen. Von der dänischen Minderheit im deutschen Südschleswig und der deutschen im dänischen Nordschleswig bis zu den Autonomiemodellen der Südtiroler in Norditalien, für Katalonien und das Baskenland in Spanien oder die Sprachen rechte für die Waliser in Großbritannien sind eine Reihe westeuropäischer Nationalitätenprobleme inzwischen relativ befriedigend gelöst worden. In der Föderation europäischer Volksgruppen (FUEV) in Flensburg arbeiten seit .1989 erstmals auch Minderheitenvereinigungen aus Ungarn mit. Im „Europäischen Büro für kleinere Sprachen“ haben sich alle Sprachminderheiten der EU zusammengeschlossen. Nur in dem entstehenden gemeinsamen Haus Europa, dessen Kernzelle die Europäische Gemeinschaft sein könnte, wären alle kleineren Völker, Nationalitäten und Minderheiten West- wie Osteuropas dazu in der Lage, durch intensive Zusammenarbeit ihre Rechte endlich durchzusetzen.
Johannes Vollmer, geboren 1950, Journalist, war langjähriger Europareferent der GfbV und Mitarbeiter der Zeitschrift „pogrom“. Aus: „Aufstand der Opfer – Verratene Völker zwischen Hitler und Stalin“, Hg. Johannes Vollmer/Tilman Zülch; Göttingen 1989, Taschenbuchreihe „pogrom“.
Microsoft Word – 6247.pdf (yadvashem.org)
DFG – Ausstellung: Wissenschaft, Planung, Vertreibung. Der Generalplan Ost der Nationalsozialisten.
Deutsche Geschichtswissenschaftler und der Generalplan Ost – – GRIN
Timothy Snyder – Bloodlands – Paperback
Belarusian democracy movement – Wikipedia
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