Von Neukaledonien nach Schottland

Widersprüchlich sind die Wahlergebnisse in den Ecken Großbritanniens und Frankreichs.

Von Wolfgang Mayr

Die katalanische NGO Ciemen spricht in ihrer Wahlanalyse von Licht- und Schattenseiten. Erfreulich findet Ciemen, dass es auf Korsika gelungen ist, den Siegeszug des rechtsradikalen Rassemblement National zu stoppen. 

Korsika ist ein extremer Sonderfall. Bei den verschiedenen Regionalwahlen siegten autonomistische Partei-Koalitionen, bei den Präsidentschaftswahlen dominierte das RN. Korsen wählten mehrheitlich RN. Warum? Wegen der Einwanderung, analysierten die Kommentatoren. Und weil sie auf das Festland auswandern müssen.

Schräg: Das RN lehnt das von autonomistischen Korsen geforderte und vom französischen Präsidenten Macron versprochene Autonomiestatut für die Insel strikt ab. Offensichtlich bekamen die RN-Nationalisten dafür bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen die Quittung.  

Kein RN-Kandidate konnte sich durchsetzen, gewählten wurden der gemäßigte Rechte Laurent Marcangeli, die Autonomisten Paul-André Colombani sowie Michel Castellani und der konservative François-Xavier Ceccoli.

Das RN ließ die Korsen wissen, dass eine Autonomie als “Startbahn für die Unabhängigkeit” strikt abgelehnt wird. Bleibt die Frage, wer das gegebene Autonomie-Versprechen umsetzen wird. Oder bleibt es wieder einmal nur ein Versprechen?

Nordkatalonien und Iparralde: zwei gegensätzliche Dynamiken

Während auf Korsika das Rassemblement National scheiterte, wählten die Bürger:innen der vier nordkatalanischen Wahlkreise – in den östlichen Pyrenäen – ausschließlich RN. Die RN-Kandidaten räumten regelrecht ab, das Rassemblement erhielt bei den Wahlen 2012 gerade mal 9.251 Stimmen, jetzt 130.636 Stimmen. Wollten die Katalanen von Catalunya Nord damit unterstreichen, dass sich überzeugte Franzosen sind? Über-Franzosen? Nichts mit den rebellischen Verwandten in der autonomen Region Katalonien in Spanien zu tun haben?

Auf der westlichen Seite der Pyrenäen, im französischen Baskenland Ipparalde, hatte das RN keine Chance, obwohl die Stimmen verneunfacht wurden. Von 7.000 2017 auf 62.000. In den baskischen Wahlkreisen wurde das RN immerhin zweite Kraft. Es setzte sich die Neue Volksfront durch, Iñaki Echaniz und Colette Capdevielle von der Sozialistischen Partei und der “Abertzale” Peio Dufau von EH Bai. Dufau ist der erste linksnationalistische baskische Abgeordnete in der Nationalversammlung.

Widerspenstiger Archipel

Die katalanische NGO Ciemen begrüßt den – offensichtlich überraschenden – Wahlerfolg der kanakischen “Sozialistischen Nationalen Befreiungsfront” FLNKS. Damit ist seit 1986 erstmals wieder ein kanakischer Unabhängigkeitsbefürworter in die Nationalversammlung gewählt worden. 

Emmanuel Tjibaou, in Allianz mit der Neuen Volksfront des EU- und Nato-Gegners Melenchon, setzte sich in seinem Wahlkreis mit 57 Prozent der Stimmen durch. Tjibaou, nach Rock Pidjot (Abgeordneter von 1964 bis 1986) der zweite kanakische Unabhängigkeitsabgeordnete, ist der Sohn von Jean-Marie Tjibaou, einer führenden Figur der kanakischen Unabhängigkeitsbewegung in den 70er und 80er Jahren. 

Den ersten Wahlkreis hat Nicolas Metzdorf gewonnen, ein strikter Gegner der Unabhängigkeit. In der letzten Legislaturperiode saß Metzdorf für die Loyalisten in der Nationalversammlung.

Diese Parlamentswahlen waren vom Konflikt zwischen der kanakischen Unabhängigkeitsbewegung und dem Staat wegen der Wahlreform geprägt. Das Wahlrecht wurde auch auf “Zugezogene” aus dem französischen “Mutterland” ausgedehnt. Damit erhöhte sich der “weiße” Stimmenanteil, besonders gegen die Unabhängigkeit. Diese Reform löste heftige kanakische Proteste und eine harte französische Repression aus.

Überraschend hoch mit mehr als 73 Prozent war die Wahlbeteiligung. Offensichtlich nutzten die Unabhängigkeitsbefürworter die Wahlen zur Mobilisierung ihrer Anhänger:innen. Eine gelungene Mobilisierung, die deutlich zeigt, dass die Unabhängigkeit immer noch zum politischen Ziel gehört. Immerhin beträgt der Stimmenanteil der Unabhängigkeitsbewegung in beiden Wahlkreisen mehr als 52 Prozent. Die Loyalisten kommen auf 46 Prozent.

Die “Anderen” in der Nationalversammlung

Es gibt also die Stimmen der “staatenlosen Nationen” im französischen Staat. Je nach Territorium fordern diese Abgeordneten die institutionelle Anerkennung, ein Autonomie-Statut oder die Selbstbestimmung. Sie bezeichnen sich als Regionalisten, Unabhängigkeitsbefürworter oder Autonomisten. Insgesamt sind es fünfzehn, sie könnten eine eigene Fraktion bilden. Fakt ist, dass diese Abgeordneten in verschiedenen Fraktionen “sitzen” werden.

Eine davon ist die Gruppe “Libertés, indépendants, Outre-mer et territoires”, die Fraktion des Parteienbündnisses “Régions et Peuples SolidairesRPS. Dazu zählen die Korsen Castellani und Colombani und der Bretone Paul Molac, “Vater” des Gesetzes über die „regionalen“ Sprachen. Mit dabei auch die Gewählten aus Guadeloupe, Olivier Serva und Max Mathiasin, sowie Stéphane Lenormand aus Saint-Pierre-et-Miquelon zusammentreffen.

Der Baske Peio Dufau, der Martinique Jiovanny William, Béatrice Bellay und die Unabhängigkeitsbefürworter Marcelin Nadeau und Jean Philippe Nilor, der sozialistische Abgeordnete aus Guadeloupe Christian Baptiste, Jean-Víctor Castor und Davy Rimane aus Guyana sowie Steve Chailloux und Mereana Reid Aberlot aus Polynesien und Emmanuel Tjibaou von den Kanak FLNKS werden Mitglieder der Fraktion der “Neuen Volksfront” sein.

Der Absturz der SNP

In Frankreich bestrafte das Mehrheitswahlrecht den RN. Obwohl die Rechtsradikalen mit mehr als neun Millionen Stimmen stärkste Kraft im Land sind, rutschten sie wegen der Wahlkoalitionen mandatsmäßig auf den dritten Platz ab. Wahlverzerrung pur.

Ähnlich erging es bei der britischen Parlamentswahl der schottischen SNP. Sie verloren im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2019 fast die Hälfte der Stimmen und 39 der 47 Sitze. Von der ersten Kraft in Schottland und der dritten im Vereinigten Königreich rutschten sie auf den zweiten bzw. vierten Platz ab. Britische und europäische Medien frohlockten, damit ist der Kampf um die schottische Eigenstaatlichkeit beendet.

Die Prozentzahlen sind weniger dramatisch als die gewonnenen Wahlkreise. Labour holte sich in Schottland 35 Prozent der Stimmen, die SNP kam auf 30 Prozent. Ein Erdrutschsieg sieht anders aus.

Und der Traum eines eigenen schottischen Staates scheint – trotz aller Wahlanalysen – noch   virulent zu sein. Laut jüngsten Umfragen befürworten noch immer zwischen 40 und 45 Prozent der Schott:innen die Unabhängigkeit.

Plaid Cymru legt zu

In Wales konnte die walisische Nationalpartei Plaid Cymru leicht zulegen, auf fast 15 Prozent der Stimmen. PC konnte ihre vier Parlaments-Mandate verteidigen. Einer der vier Wahlkreise, jener von Arfon und PC-Hochburg, wurde aufgelöst und benachbarten Wahlkreise angegliedert. Dafür holte sich die linke Unabhängigkeitspartei den Wahlsieg in Ynys Môn.

PC-Vorsitzender Rhun ap Iorwerth geht davon aus, dass seine Partei bei den walisischen Wahlen 2026 nochmals zulegen wird. Plaid Cymru fordert in ihrem Programm die Übertragung von zentral-staatlichen Befugnissen an Wales und eine “faire Finanzierung“. Labour, dominierende Partei in Wales und in Großbritannien, kündigte an, über einige Transfers und auch über eine neuen Finanzierungsformel für Wales verhandeln zu wollen.

Sinn Féin-Hochburg Nord-Irland

Den irischen Republikanern kam in Nordirland das Mehrheitswahlrecht zugute. Sinn Fein legte im Vergleich zu vorhergehenden Wahlen abermals zu, schaffte 27 Prozent und sieben Sitze von insgesamt 18 nordirischen Parlamentsmandaten in London. 

Sinn Féin konnte sich damit als führende Kraft in Nordirland festigen, eine Position, die bereits bei den letzten Wahlen zum Stormont (Regionalparlament) und auch bei den Kommunalwahlen erreicht wurde. Es ist das erste Mal, dass die Republikaner diese drei Wahlen in Folge gewonnen haben.

Die andere Partei, die für die irische Wiedervereinigung wirbt, die sozialdemokratische SDLP, behält ihre beiden Sitze.
Die Sinn Féin-Führung will nach diesem erneuten Sieg den Druck auf die britische Regierung erhöhen. Sinn Fein will ein Referendum für die irische Wiedervereinigung aushandeln. Alle britischen Regierungen haben dies bisher abgelehnt. Obwohl vorgesehen im Friedensabkommen zwischen London, Belfast und Dublin, im Good Friday Agreement.

Die katalanische NGO Ciemen feiert den Wahlsieg von Sinn Fein, erwartet sich von den irischen Republikanern neue Impulse für die “Nationen ohne Staat” in Europa. Trotz oder gerade des EU weiten Trends nach rechts.

Im britisch-unionistischen Lager hat die nationalkonservative Democratic Unionist Party (DUP) drei ihrer acht Sitze verloren. Ihrem Spitzenkandidaten wirft die Justiz sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung vor. Drei weitere Mandate gingen an die rechtsrechte Traditionalist Voice of Ulster (rechts von der DUP angesiedelt und gegen das Karfreitagsabkommen) sowie an die  Ulster Unionist Party (UUP, die ehemalige Mehrheitspartei im unionistischen Lager und gemäßigter als die DUP) und einen unabhängigen unionistischen Kandidaten.

Verzerrtes Bild

Labour stellt mit Keir Starmer inzwischen den britischen Premierminister, verfügt über 412 der 650 Parlaments-Sitze, dominiert in England, in Wales und in Schottland. 

Die Konservativen rutschten weit ab, auf 121 Mandate, auf kaum mehr 20 Prozent. Vom konservativen Wählerschwund scheint der rechtsrechte Brexit-Architekt Nigel Farrage profitiert zu haben. Mehr als vier Millionen Wählende kreuzten die Reform UK von Farrage an, 14 Prozent der Stimmen, wegen des Mehrheitswahlrechts gehen aber nur fünf Sitze an die Farrage-Partei.  Die Konservativen und die Rechte sind gemeinsam so stark wie Labour (34 Prozent).

Als drittstärkste Kraft konnten sich die Liberaldemokraten behaupten, das Mehrheitswahlrecht macht es möglich. Mit nur 12 Prozent der Stimmen kommen die Liberaldemokraten auf 72 Mandate, Reform UK mit fast 15 Prozent nur auf dürftige fünf Parlamentssitze. 

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