„Von Jakutien nach Waldheim in Sachsen: Die lange Reise des Stepan Petrov“

Stepan Petrov war als indigener Aktivist in Russland aktiv. Warum er sich dazu entschlossen hat, seine Heimat zu verlassen, hat er Jan Diedrichsen in seiner Kolumne verraten.

Jan Diedrichsen und Stepan Petrov kennen sich bereits seit einiger Zeit über die Menschenrechtsarbeit. Die beiden haben sich in der vergangenen Woche erstmals persönlich getroffen.

Auf die zugegebenermaßen nicht besonders intelligente Frage, ob er seine Heimat nicht vermisse, antwortet Stepan Petrov in Waldheim, im tiefsten Sachsen: „Hier sind es zumindest keine 40 Grad Minus. Ich kann jeden Morgen joggen. Das ist zu Hause nicht möglich.“ Stepan Petrov stammt aus Jakutien und ist einer der vielen russischen Staatsbürger (Russländer), die keine Russen sind. Die Jakuten sind ein Turkvolk, das in der autonomen Republik Sacha (Jakutien) innerhalb der Russischen Föderation im fernöstlichen Sibirien beheimatet ist.

„Wir müssen Russland dekolonialisieren. Wir müssen den vielen Nationalitäten, indigenen Völkern und Minderheiten die Selbstbestimmung geben. Wir sind keine Russen.“ Stepan Petrov spricht schnell und mit Nachdruck. Er sitzt in seinem kaum 25 Quadratmeter großen Zimmer im ehemaligen AOK-Erholungsheim in Waldheim in Sachsen. Er gehört zu den wenigen russischen Staatsbürgern, die sich zur Flucht entschieden haben und in Deutschland ein humanitäres Visum und damit ein vorläufiges Bleiberecht erhalten haben. „Ich habe ein Dach über dem Kopf und muss nicht täglich über meine bevorstehende Verhaftung nachdenken. Und vor allem muss ich keine Ukrainer töten.“ Es ist schwer, sich Stepan Petrov mit einer Waffe in der Hand vorzustellen, wie er in einem der vielen Schützengräben liegt. Und doch sterben in diesen Schützengräben derzeit täglich Hunderte junge Männer, davon viele Angehörige indigener Völker und der über 100 verschiedenen Nationalitäten Russlands. Es werden Kriegsverbrechen begangen, unaussprechliches Leid wird über die Ukraine gebracht.

Indigener Aktivist in Russland

Seit Jahren setzt Stepan Petrov sich für die Rechte der indigenen Völker ein. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht von gezielter Auslöschungspolitik des Kremls und seiner willfährigen regionalen Helfer. Die Ausbeutung und der Raubbau an der Natur gehören schon seit Jahrzehnten zum Alltag der indigenen Völker, die immer stärker von ihrem ursprünglichen Lebensstil entfremdet zusehen müssen, wie neben der Natur auch ihre Kultur und Sprache brutal vernichtet werden. Verbittert wirkt er, wenn er von den indigenen Vertretern berichtet, die sich in seiner Heimat der Macht anbiedern, sich haben kaufen lassen. Der ehemals honorige Zusammenschluss der indigenen Völker des Nordens, RAIPON, ist mittlerweile in der Tasche der Kremlmachthaber. Es sei nur schwer zu ertragen, wenn man in den sozialen Medien beobachtet, wie die indigenen Vertreter sogar für den Krieg trommeln, meint Petrov.

Stepan Petrov war der erste indigene Aktivist in Russland (viele befinden sich seit Jahren im Exil), der als sogenannter „Ausländischer Agent“ auf die „Watch-List“ des Kremls gesetzt und zu einem Bußgeld verurteilt wurde. „Das nächste Mal wäre ich für zehn Jahre ins Gefängnis gegangen. Das ist sicher“, so Petrov.

Das Perfide an dem Unterdrückungssystem in Russland ist bereits aus Sowjetzeiten hinlänglich bekannt: Freund wie Feind immer im Unklaren lassen. Keine verlässlichen Prognosen oder gar Gewissheit zulassen. Jeder muss Angst haben, verhaftet oder gar getötet werden zu können. Es wäre nicht das erst Mal, dass Menschen für Jahre hinter Gittern verschwinden, ohne wirklich zu wissen, warum. Stepan Petrov liefert aus Sicht der Kreml-Schergen genügend Gründe, im Kerker zu verschwinden: Er ist ein Blogger, der nicht müde wird, über die Korruption zu berichten. Das System Putin beruht aber fundamental auf Korruption und der schamlosen Ausbeutung des Landes. Ohne den Geldstrom an die vielen Nutznießer, die sehr reich geworden sind, würde Putin sich wohl keinen Tag an der Macht halten können.

Flüchtling in Deutschland

Der redegewandte Jakute hat eine lange Flucht hinter sich. Über Jakutien, Kasachstan, Georgien, Türkei, Polen und die baltischen Staaten ist er in Deutschland angekommen. „Von Polen aus wollte ich nach Deutschland. Keine Chance. Wir wurden nicht gerade freundlich behandelt. Irgendwie bin ich dann nach Lettland und dann nach Deutschland. Ich bin froh, hier zu sein. Doch was soll jetzt werden? Was kann ich machen? Ich bin dankbar. Aber wie soll ich mein Leben weiterleben, mein Potenzial voll ausschöpfen? Ich darf das Gebiet nicht verlassen, ich muss hierbleiben. Wenn ich in eine große Stadt ziehen will, muss ich mich selbst versorgen können und eine Wohnung mieten. Wer beschäftigt einen jakutischen Menschenrechtler?“

Es ist bedrückend, Stepan Petrov zuzuhören, den ich bereits seit einiger Zeit über die Menschenrechtsarbeit kenne, aber in der vergangenen Woche erstmals persönlich getroffen habe. Die Chancen, dass er jetzt im Gefängnis oder an der Front wäre und töten müsste, wäre er nicht aus Russland geflohen, sind hoch. Gut, dass er in Sicherheit ist. Doch es ist gleichwohl beschämend, wenn der einzige Rat, den ich ihm geben kann, ist, schnell Deutsch zu lernen, einen Job zu finden, seine Menschenrechtsarbeit nicht aufzugeben, weiter gegen Putin und seine Mörder anzuschreiben. Stepan Petrov gibt selbst die Antwort, indem er seit meiner Rückkehr aus Waldheim bereits mehrere Mails mit Stellungnahmen, Fragen und Anregungen geschickt hat. Und dabei immer wieder betont: Die Ukraine muss gewinnen, Russland muss dekolonisiert werden, die Nationalitäten müssen ihre Freiheit bekommen. Dann kann Stepan – wenngleich die Aussichten düster sind – vielleicht irgendwann in seine Heimat zurückkehren.

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