„Politisches Erdbeben in Südtirol: SVP koaliert mit italienischen Rechten“

Eine schleichende Verschiebung des demokratischen Gebarens wie in Ungarn – das könnte mit der neuen Regierung in Südtirol einhergehen und sich auch auf die Europawahlen im Juni auswirken, befürchtet Jan Diedrichsen in seiner wöchtentlichen Kolumne.

Von Jan Diedrichsen

In der Provinz Südtirol, im nördlichen Italien, hat die neue Regierung ihr Amt angetreten. Arno Kompatscher, Landeshauptmann (Ministerpräsident) von der Südtiroler Volkspartei (SVP), wird in seiner dritten Amtszeit eine Koalition mit rechten Parteien aus beiden Sprachgruppen, sowohl der italienischen als auch der deutschen, führen. Das Fünferbündnis in Bozen setzt sich aus der rechten Partei „Brüder Italiens“ unter der Führung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, der rechtsnationalen Lega von Vizeministerpräsident Matteo Salvini, dem konservativen Bündnis La Civica und den Freiheitlichen zusammen, die eng mit der rechten Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) verbunden sind. Die Mitglieder der Regierung sollen am 16. Januar vereidigt werden.

Die Sammelpartei SVP, die seit 1948 ununterbrochen in der autonomen Provinz regiert, hatte bei den Wahlen vom 22. Oktober erneut deutliche Stimmenverluste erlitten.

Erstmals in ihrer Geschichte bildet die von Antifaschisten 1945 gegründete SVP eine Landesregierung mit den Fratelli d´Italia (Brüder Italiens). Diese ist keine Partei wie irgendeine andere. Die Fratelli sind von einer Randpartei zur Regierungspartei aufgestiegen. Die Anti-System-Partei dominiert jetzt das „System“. Die Wurzeln reichen tief in die faschistische Vergangenheit Italiens – was für Entsetzen bei vielen Südtirolerinnen und Südtiroler geführt hat. Die neue Regierungspartei Italiens wird trotz ihrer neuerdings dezenteren Rhetorik weiterhin im Kern von vielen Beobachterinnen und Beobachtern als rechtsradikal und rechtsnational eingeschätzt. Demnach seien zwar keine faschistischen Milizen auf den Straßen zu erwarten wie einst 1922. Die Gefahr sei vielmehr eine schleichende Verschiebung des demokratischen Gebarens wie in Ungarn; dort läuft das illiberale Experiment des Viktor Orbán auf Hochtouren. Dieses Ungarn ist das Labor für ein anderes Europa, für ein Europa der Grenzen, ein Europa der Ausgrenzung, für ein autoritäres Europa, so die Befürchtung nicht nur in Südtirol.

224 Wissenschaftler der autonomen Provinz waren mit einem „Offenen Brief“ gegen die Koalition mit den Rechtsparteien auf die Barrikaden gegangen. Auch rund 200 Künstlerinnen und Künstler wandten sich gegen eine Regierungsbeteiligung der als postfaschistisch bezeichneten Fratelli d’Italia. Die SVP-Parteibasis schien aber mehrheitlich hinter dem Kurs ihrer Parteileitung zu stehen.

Der neue und alte Landeshauptmann Arno Kompatscher war in den vergangenen Tagen bemüht, die Kritiker zu beruhigen. Er betonte unter anderem, dass es an der SVP liege, „dafür zu garantieren, dass eine Koalition eine klare Ausrichtung der Mitte hat“. Man sei schließlich die Partei, die „die Mitte vertritt“. Der Parteivorsitzende Achammer sprach von einer „Vernunft- und keiner Liebesehe“.

Die autonome Provinz Südtirol reiht sich damit freiwillig in die Riege der rechts-rechts regierten Regionen Italiens und Europas ein. Im Gegenzug wird die durchlöcherte Autonomie wieder hergestellt, versprach die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bei ihrem Amtsantritt vor einem Jahr.

Landeshauptmann Arno Kompatscher übergab dieser nun ein Reformprojekt für die Autonomie. In einem halben Jahr sollen die Unterhändler zu einem Ergebnis kommen.

Die Bildung der Koalitionsregierung in Bozen hat nicht nur Auswirkungen in Rom, sondern auch im Hinblick auf die Europawahlen im Juni. Meloni strebt eine konservative Mehrheit in Straßburg und Brüssel an und positioniert sich als Partnerin der europafreundlichen SVP. Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, Manfred Weber, hat sich bereits – so berichten Südtiroler Medien – bei der SVP in Bozen informiert. Auch in Brüssel könnte es für eine rechts-rechte-Mehrheit nach den nächsten Parlamentswahlen reichen.

FAKTEN

Die Autonomie Südtirols basiert auf dem Autonomiestatut von 1972, das der Region weitreichende Befugnisse in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Kultur, Verkehr und Landwirtschaft gewährt.

Die Region verfügt über ein eigenes Landesparlament, den Südtiroler Landtag, und eine Landesregierung. Diese Institutionen sind für die Umsetzung autonom gewährter Befugnisse in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Kultur, Verkehr und Landwirtschaft verantwortlich.

Südtirol weist eine vielfältige Sprachgruppenverteilung auf, wobei Deutsch die vorherrschende Sprache ist. Etwa 69 Prozent der Bevölkerung sprechen Deutsch, gefolgt von Italienisch mit rund 26 Prozent. Ladinisch, eine Rätoromanische Sprache, wird von etwa 5 Prozent der Bevölkerung gesprochen.

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