Ostsee-Kooperation durch russischen Angriff in Schockstarre

Esten, Letten, Litauer fragen sich, ob sie Moskaus nächstes Ziel sind. Große russische Minderheiten in den Ländern.

Quelle: https://www.welt.de

Von Jan Diedrichsen
 
Lennart Meri, der erste frei gewählte Präsident des wieder unabhängigen Estlands, bezeichnete 1992 in Kopenhagen die Ostsee als „Mittelmeer der nordischen Länder“. Seit den 90er-Jahren gab es eine immer engere Zusammenarbeit zwischen den Anrainerstaaten der Ostsee in verschiedensten Gremien. Dabei immer mit Russland am Tisch, das durch die Region Kaliningrad zur Ostseekooperation gehört. Die Zusammenarbeit mit Russland wurde nun auf allen Ebenen eingefroren. Vor allem die so genannten baltischen Staaten, – die gar nicht gern so genannt werden wollen –, sind beunruhigt. Ihre historischen Erfahrungen mahnen sie zur Wachsamkeit.
 
In allen drei Ländern gibt es große russische Minderheiten; in Lettland und Estland machen sie etwa ein Viertel der Bevölkerung aus. 2007 kam es zu gewaltsamen Protesten mit einem Todesopfer, als Hunderte ethnische Russen gegen die Pläne der Regierung protestierten, ein sowjetisches Kriegsdenkmal in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, zu verlegen. Damals veranstaltete die Dachorganisationen der Minderheiten Europas – FUEN – ihren Kongress in Tallinn und konnte die Auseinandersetzungen hautnah miterleben und mit den Minderheiten des Landes intensive Gespräche führen.
Es gibt derweil keine Anzeichen dafür, dass sich die russischen Minderheiten – bis auf vereinzelte Stimmen – illoyal verhalten sollten oder gar offen einen Einmarsch Putins herbeisehnen. Ein großes Problem ist die russische Propaganda. Ihre Nachrichten beziehen die russischen Minderheiten in den baltischen Staaten zum überwiegenden Teil aus den russischen Propaganda-Medien-Netzwerk. Ein Fakt, der schon über Jahrzehnte  in der Minderheitenarbeit der Region äußerst kritisch vermerkt wurde.
 
Vor allem die BürgerInnen in Estland, Lettland und Litauen, die alt genug sind, um unter sowjetischer Kontrolle gelebt zu haben – befürchten, dass Russlands kriegerische Haltung gegenüber der Ukraine sie zur nächsten Zielscheibe machen könnte. Alle drei Länder wurden während des Zweiten Weltkriegs von Stalin okkupiert und annektiert, bevor sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit wiedererlangten. Im Jahr 2004 traten sie der NATO bei.
 
Estland, Lettland und Litauen gehören zu den lautesten Befürwortern von Sanktionen gegen Moskau und einer Verstärkung der NATO an der Ostflanke des Bündnisses.
„Der Kampf um die Ukraine ist ein Kampf um Europa. Wenn Putin dort nicht gestoppt wird, wird er weiter vorrücken“, warnte der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis.
 
Putin hat zwar öffentlich keine Ambitionen geäußert, die russische Kontrolle über die Länder wiederzuerlangen, doch viele Esten, Letten und Litauer befürchten, dass er in allen ehemaligen Republiken der Sowjetunion, deren Zusammenbruch er einst als Tragödie für das russische Volk bezeichnete, wieder Einfluss gewinnen will.
 
In seiner Rede, mit der er die Weichen für die russische Militärintervention stellte, sagte Putin die Ukraine sei „für uns nicht nur ein Nachbarland. Sie ist ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur und unseres geistigen Raums.“
 
Estland, Lettland und Litauen haben zwar nicht dieselben engen Beziehungen zu Russland wie die Ukraine, wurden jedoch in den letzten 200 Jahren zumeist von Moskau regiert, zunächst vom russischen Reich, dann ein halbes Jahrhundert lang nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion.

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