17-01-2022
Kein „Brudervolk“: Die große Mehrheit der Bevölkerung der Ukraine hat sich von Russland emanzipiert, schreibt der Politikwissenschaftler Serhii Schapowalow auf „Ukraine verstehen“
Von Wolfgang Mayr
Vor zwanzig Jahren konnten sich die Ukrainer noch eine Allianz mit Russland und Belarus vorstellen. Das änderte sich inzwischen aber grundlegend, findet der Politikwissenschaftler Serhii Schapowalow auf „Ukraine verstehen“. Als Grund dafür bezeichnet er die russische Aggression, mit dem Höhepunkt des Überfalls auf die Krim im Jahr 2014. Inzwischen stehen laut den Erhebungen von Schapowalow nur noch ein Viertel der Bürger einem Beitritt der Ukraine zu einem Unionsstaat positiv gegenüber.
Die Ukraine ist außerdem vielfältig, erinnert der Politikwissenschaftler auf den multikulturellen und mehrsprachigen Charakter seines Landes. „Darüber hinaus gab es unter der Bevölkerung des Südens und Ostens der Ukraine, die historisch gesehen stärker russifiziert und wirtschaftlich an Russland gebunden sind, aufgrund der russischen Aggression auch einen Meinungsumschwung,“ kommentiert Schapowalow seine Erhebungen.
„Außerdem entfremdet sich die ukrainische Gesellschaft auch mental immer mehr von der russischen Gesellschaft,“ schlussfolgert Serhii Schapowalow. „Dies spiegelt sich vor allem in der Interpretation der Ereignisse der gemeinsamen Geschichte wider. Während Russland eine strafrechtliche Verfolgung für die Gleichsetzung der Handlungen der UdSSR und Nazideutschlands bei der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs einführt, kommen die Ukrainer zu der Erkenntnis, dass es der Pakt zwischen Hitler und Stalin war, der den Krieg verursachte“.
Serhii Schapowalow wartet auch mit einer überraschenden Erkenntnis auf: „Die Ukrainer unterstützen auch das neue Sprachengesetz. Die Mehrheit in allen Regionen des Landes sind der Meinung, dass alle Bürger die Staatssprache beherrschen sollten, dass Beamte die öffentliche Kommunikation auf Ukrainisch führen sollten und dass der Unterricht in staatlichen Bildungseinrichtungen ebenfalls auf Ukrainisch stattfinden sollte, wie es das neue Gesetz vorsieht“.
Auch in den historisch stärker russifizierten Regionen im Süden und Osten der Ukraine empfindet die Hälfte der Bürger, die zu Hause auf Russisch kommunizieren, das Ukrainische als ihre Muttersprache. Diese gilt als ein Faktor der politischen Identität.
Russland ist es zwar gelungen, die Krim zu annektieren und im Donbass zwei Regionen unter seine Kontrolle zu bringen. Erfolgreich ist auch die derzeitige ernstzunehmende Drohkulisse an der urkainisch-russischen Grenze. Erfolglos hingegen blieb aber die russische Propaganda, die Ukraine als einen ineffizienten oder gar gescheiterten Staat darzustellen. Wie es scheint, seht die Mehrheit der Ukrainer hinter ihrem Staat. Die russische Aggression sorgte für Zustimmungswerte von 72 Prozent.
Serhii Schapowalow ist Politikwissenschaftler und Dozent an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla Akademie. Bei der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation (DIF) beschäftigt er sich mit Meinungsforschung und koordiniert Forschungsprogramme zu politischen Themen, insbesondere zu Sprachpolitik und Erinnerungspolitik. Derzeit schreibt er seine Doktorarbeit über die Beeinflussung von Wahlpräferenzen und die Anfälligkeit für Propaganda in der Ukraine.
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