„Kann Südtirol Staat?“

Die Fachzeitschrift „europa ethnica“ würdigt das „Weißbuch“ für die Südtiroler Eigenstaatlichkeit

Europa Ethnica, eine renommierte wissenschaftliche Fachzeitschrift für Minderheitenfragen, widmet ihre Doppelausgabe (3/4 – 2023) dem Buch Kann Südtirol Staat? des Vereins NoiLand Südtirol-Sudtirolo. Das „Weißbuch“ wurde von Staatsrechtskoryphäen wie Alexander Balthasar, Alain Fenet, Michael Geistlinger und Christian Tomuschat rezensiert. 

Von Simon Constantini

Wie a.o. Prof. Peter Hilpold (Universität Innsbruck), Mitherausgeber der Zeitschrift, in seiner Einleitung schreibt, hat man es „für angezeigt erachtet, nicht unmittelbar aus der Region heraus“ zur Publikation „Stellung zu beziehen, sondern Fachleute von außerhalb mit einer Rezension bzw. einer Stellungnahme zu betrauen“, da das Thema naturgemäß delikat sei: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das AutorInnenkollektiv von ´Kann Südtirol Staat` nicht der Versuchung verfallen ist, bloß eine politische Streitschrift zu verfassen, sondern ein konkretes Bemühen gezeigt hat, diese schwierige Thematik aus verschiedensten Blickwinkeln anzugehen. Auffallen muss auch, dass ein derart komplexes und heikles Thema von durchwegs sehr jungen AutorInnen, die keinen langjährigen akademischen Background aufweisen, so nuancenreich angegangen worden ist. Immer mehr macht sich damit ein wichtiger Aspekt der `Demokratisierung des Wissenschaftsbetriebs` bemerkbar: Hochdiffizile und heikle Fragen des Völkerrechts sind in ihrer vertieften Behandlung nicht mehr allein dem ´akademischen Elfenbeinturm´ vorbehalten, sondern die informierte Zivilgesellschaft ist als gleichberechtigter Diskussionspartner ernst zunehmen und zu akzeptieren. Ja, diese kann sogar wichtige Impulse zur Eröffnung von Diskussionsforen bieten, die die etablierte Wissenschaft — sei es aus Behäbigkeit, sei es aus politischer Zurückhaltung, sei es auch aus Opportunismus — am liebsten ignorieren möchte,“ würdigt Peter Hilpold das zum Nachdenken anregende Buch.

„Selbstbestimmung ist demokratisches Grundrecht“

Alain Fenet, Professor für öffentliches Recht an der Universität Naoned (Nantes), urteilt in seiner detaillierten Stellungnahme unter anderem: „Das Buch behandelt mit Seriosität und Klarheit sämtliche Fragen, die sich aus der Forderung und Schaffung eines unabhängigen Staates für Südtirol ergeben. Die Autoren wollen kein Programm lancieren, sondern wünschen, eine Diskussion über eine mögliche Zukunft zu eröffnen. Auf kompetente und ehrliche Weise verbergen sie nicht die Hürden und Schwierigkeiten, mit denen ein solches Unterfangen rechnen muss.“

Alain Fenet findet: „Die Autoren räumen ein, dass kein (internationales) Recht auf Sezession existiert, unterstreichen aber, dass es ebensowenig ein Verbot gibt. (…) Die Anzahl souveräner Staaten hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdreifacht, wovon 18 seit 1990 entstanden sind. Man kann den Gedanken der Autoren nicht verwerfen, dass diese Entwicklung noch immer am Werk sei, da das Selbstbestimmungsrecht als Recht einer Gesellschaft, über ihre Geschicke zu befinden (S. 17), dem demokratischen Prinzip innewohnt, das die Gesellschaften immerfort antreibt. Die Selbstbestimmung wäre demnach nicht auf eine gewisse historische Epoche oder a priori festgelegte politische oder gesellschaftliche Kategorien beschränkt. Zahlreiche Faktoren transformieren die internationale Gemeinschaft, tragen zur Entwicklung der Gesellschaften bei und verändern die politischen Auffassungen und Vorstellungen; anders gesagt, die Zukunft ist offen. Diese von den Autoren geteilte Sichtweise findet sich, angemessen dargelegt, auch in der Doktrin wieder.“

Fenet stimmt der These zu, dass das Selbstbestimmungsrecht inzwischen ein demokratisches Grundrecht sei. Gleichzeitig weist er aber auch darauf hin, dass insbesondere konservative Kräfte der etablierten Macht die berechtigte Frage stellen könnten, ob man diesem Recht einen absoluten Wert beimessen muss, auch weil seine Umsetzung mit Problemen einhergehen kann.

„Für unionsunmittelbare Einheiten“

Alexander Balthasar, Privatdozent für Verfassungsrecht und Allgemeine Staatslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz, deutet das Buch unter anderem als Indiz dafür, dass auch in Südtirol die nach dem Ersten Weltkrieg ´von Europäern Europäern geschlagenen Wunden noch nicht verheilt´ seien. Unter anderem auch der Misserfolg der Tschechoslowakei gehöre ´in diese desaströse Bilanz damaliger, jedoch sichtlich bis heute fortwirkender Hybris.´ Es sei ´sicherlich richtig, dass das völkerrechtliche Recht auf Selbstbestimmung (in letzter Konsequenz: Sezessionsrecht) ein kontinuierliches Recht darstellt, es daher keiner Bevölkerung a limine (also von vornherein) verwehrt sein darf, immer wieder aufs (N)eue eine Situation zu bewerten und gegebenenfalls ein Sezessionsbegehren zu stellen, das dann auch zivilisierter Behandlung zugeführt werden sollte. Darauf hingewiesen zu haben, ist ein durchaus nicht selbstverständliches Verdienst der Autoren … Und es ist sicherlich auch richtig, dass gerade unter dem gemeinsamen Dach der Europäischen Union (unter dem die Autoren Südtirol weiter wohnen lassen möchten) auch einzelne kleinere ´unionsunmittelbare´ Einheiten nicht nur existieren, sondern auch prosperieren können. Die Autoren haben den diesbezüglichen Nachweis in durchaus seriöser Weise — mit Argumenten, Zahlen, Fakten — zu führen versucht; auch hierfür gebührt den Autoren Dank.“

Darüber hinaus gibt Balthasar jedoch auch zu Bedenken, dass gerade Kleinstaaten auf eine „besonders leistungsfähige Unionsebene angewiesen wären“, woraus er ableitet, dass Südtirol dann „lediglich die eine Zentrale (Rom) gegen eine andere, vielleicht sogar leistungsfähigere/selbstbewusstere/eigenwilligere und überdies weiter entfernte (Brüssel)“ eintauschen würde. Man könnte hier allerdings einwerfen, dass Kleinstaaten gerade aufgrund dessen, dass sie eine leistungsfähige Unionsebene benötigen, die überzeugteren Partner und Garanten im europäischen Einigungsprozess wären — und dass die Eigenstaatlichkeit viel mehr als einen Tausch von Rom mit Brüssel darstellen würde, nämlich die Überwindung der noch immer sehr bestimmenden mononationalen Ebene zugunsten eines vielfältigen, Südtirol wesentlich kongenialeren Gebildes. Gerade aufgrund der unter anderem sprachlich-kulturellen Besonderheiten unseres Landes steht wohl auch nicht zu befürchten, dass sich letztendlich rund 900 unionsunmittelbare Einheiten herausbilden könnten, wie Balthasar warnend in den Raum stellt. Dieses als Bedrohung gemeinte Szenario schwächt er allerdings auch selbst wieder ab, indem er die Möglichkeit einer Neu- bzw. Umgliederung im Sinne eines Gemeinschaftsprojekts von Nord-, Ost-, Südtirol sowie Trentino in den Raum stellt. Er fragt sich, ob ein solcher Vorschlag nur „aus vorauseilender politischer Klugheit“ nicht schon im Buch enthalten ist. Und Balthasar weiter: „Hier besteht in der Tat im Unionsrecht noch eine Regelungslücke für geordnete künftige Statusverbesserungen innerhalb eines Mitgliedsstaates ebenso wie für Umgliederungen des Unionsgebietes mit Auswirkungen auf das Gebiet bzw die Struktur der bestehenden Mitgliedsstaaten. Diese Lücke sollte man vorrangig zu schließen suchen — auch auf diesen Mangel aufmerksam gemacht zu haben, ist kein geringes Verdienst der Initiative.“

Nicht uninteressant ist übrigens, dass Balthasar eine Aufnahme Südtirols als Kanton in die Schweiz (als Alternative zu einer allfälligen Angliederung an Österreich, mit der sich das Buch nicht befasst) als zusätzliche Möglichkeit ins Spiel bringt.

„Südtirol kann Staat“

Christian Tomuschat, emeritierter Professor für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität Berlin, Mitglied des Institut du Droit international, ehemaliges Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses und der UN-Völkerrechtskommission, billigt dem Werk den „erheblichen Vorteil“ zu, „dass es von einem Standpunkt objektiver Neutralität her gedacht worden ist, obwohl das angestrebte Ziel, die Klärung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer Sezession, von vornherein klar umrissen worden war. So ist vor allem eine wertvolle Bestandsaufnahme entstanden. Die Einzelstudien zeigen, welche Lebenskraft Südtirol besitzt und welche Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einem friedlichen Ausgleich ihm innewohnen. Das Fazit lautet: Südtirol kann Staat!“

Tomuschat hat eine Empfehlung parat: „Das Werk kann allen italienischen Politikern empfohlen werden, die sich mit dem Fragenkomplex Südtirol auseinanderzusetzen haben. Was die Studie an Mängeln im staatlichen Institutionengefüge und dessen Verfahrenswegen aufweist, sollte ihnen jedenfalls ein Ansporn sein die gebotenen Reformprozesse einzuleiten. Insofern ist schade, dass bisher nur eine deutsche Sprachfassung der Studie vorliegt“.

Allerdings ist bereits eine Übersetzung in Arbeit. Abschließen möchte ich diese Sammlung von Rezensionsauszügen mit dem Fazit von Michael Geistlinger, der bemerkt, dass die 40 Fragen und Antworten im Buch zeigen, „dass es den Autorinnen und Autoren in erster Linie darum geht, Ängste abzubauen und unmöglich Scheinendes als gar nicht gewagt und durchaus machbar darzustellen. Zur Schau gestellte und von der Autonomen Provinz Bozen Südtirol geförderte Sachlichkeit lassen Phantasie, Wunschdenken und anvisierte Realität miteinander verschmelzen. Südtirol scheint noch nicht an einem Endpunkt seiner Entwicklung angelangt. Man darf gespannt sein, wie sich Wünsche realisieren werden, muss aber gleichzeitig hoffen und verlangen, dass Augenmaß, Behutsamkeit und bedingungslose Gewaltlosigkeit über allem stehen bleiben.“

Dieser Forderung kann ich mich vollinhaltlich anschließen.

Der Publikation scheint es tatsächlich gelungen zu sein, eine qualifizierte, fachlich fundierte Debatte über die Zukunftsentwicklung Südtirols anzustoßen und originelle Sichtweisen einzubringen. Allein schon deshalb dürfte sich der Aufwand gelohnt haben.

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