26-01-2025
Go West? Armeniens außenpolitische Wende löst keine Probleme
Von Tessa Hofmann
GfbV-Aktion für Arzach-Bergkarabach, 23/9/2023. Foto: Nora Erdmann / GfbV
Der als Herbst- oder Zweiter Karabachkrieg (2020) in die Geschichte eingegangene Militärangriff Aserbaidschans auf die De Facto-Republik Arzach (Berg-Karabach) brachte die Wende: Regierungschef Nikol Paschinjan richtete von da an die bisher multipolare Außenpolitik seines Landes zunehmend nach Westen aus, nicht zuletzt aus Verärgerung über Russland, das bisher landläufig als Schutzmacht des kleinen Armenien galt, sich aber in den armenisch-aserbaidschanischen Konflikten in und um Berg-Karabach auffallend zurückhielt.
Die Verärgerung Paschinjans und weiter Teile der Bevölkerung seines Landes, wie auch der armenischen Diaspora betraf ebenfalls die Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS). Als Aserbaidschan im September 2022 die Republik Armenien angriff, rief Paschinjan die OVKS um Hilfe auf der Grundlage von Art. 4 des Vertrages an. Er besagt, dass jede Aggression gegen einen Mitgliedsstaat des Bündnisses von den anderen Mitgliedsstaaten als Aggression gegen alle betrachtet wird. Putin allerding lehnte die Ausrufung des Bündnisfalles ab und entsandte lediglich Beobachter.
Mit dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom 10.11.2020, das den Zweiten Karabachkrieg beendete, hatte sich Russland verpflichtet, Schutztruppen nach Berg-Karabach zu entsenden, die vor allem den Latschin-Korridor sichern sollten. Doch diese vermeintlichen Schutztruppen von knapp 2.000 Mann unternahmen nichts, als im Dezember 2022 angebliche aserbaidschanische Umweltschützer den Korridor sperrten und später Aserbaidschan die Blockade der einzigen Verbindungsstraße zwischen den Republiken Armenien und Arzach fortsetzte. Die russischen „Friedensschützer“ griffen ebenso wenig ein, als Aserbaidschan im September 2023 die verbliebenen Reste der Republik Arzach angriff und deren Bevölkerung zu vertreiben begann.
Als Reaktion auf die Untätigkeit der OVKS angesichts der Aggression Aserbaidschans erklärte Paschinjan am 22. Februar 2024, dass Armenien seine Mitgliedschaft in dem Militärbündnis eingefrieren werde. Am 8. Mai 2024 gab Armenien bekannt, dass es seine finanziellen Beiträge an die OVKS eingestellt habe. Russland reagierte auf diese Aussage scharf und verkündete, dass Armenien weiterhin beitragspflichtig sei. Daraufhin kündigte Armenien am 12. Juni 2024 seinen Austritt aus der OVKS an, ohne freilich ein genaues Datum zu nennen.
Parallel dazu schreitet Armeniens Annäherung an den „Westen“ – die USA und die Europäische Union – voran. Am 14. Januar 2025 schlossen die Außenminister der USA und Armeniens eine „ziemlich breite strategische Partnerschaft“ (Außenminister Ararat Mirsojan), und das armenische Parlament, die Nationalversammlung, soll demnächst über einen Antrag Armeniens zum Beitritt in die EU abstimmen. Offen bleibt vorerst die Position der zweiten Trump-Regierung gegenüber Armenien und Aserbaidschan. Der neue US-Außenminister Rubio telefonierte am 23. Januar 2025 mit seinem türkischen Amtskollegen über die „gemeinsamen Interessen“ beider Staaten im Südkaukasus.
Während Armenien sich mit dem angedrohten Austritt aus der OVKS dem Westen als Partner präsentiert, versucht es gleichzeitig, Russlands Zorn abzumildern. Auf dem Weltwirtschaftsforum 2025 in Davos bekannte sich Paschinjan weiterhin zu einer multipolaren Außenpolitik: „Wir haben uns für eine ausgewogene und ausgleichende Außenpolitik entschieden“, sagte Paschinjan bei einer Podiumsdiskussion in Davos, als er nach der Navigation in der Geopolitik gefragt wurde. “Das bedeutet, dass wir versuchen werden, ein Gleichgewicht zwischen unseren verschiedenen Beziehungen zur EU, unseren Beziehungen zu Russland, zu unseren regionalen Mächten und den sehr wichtigen Beziehungen zum Iran herzustellen. Und ich habe bereits erwähnt, dass wir versuchen, diplomatische Beziehungen zur Türkei aufzubauen, und dass wir versuchen, ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan zu erreichen.“
Ganz anders aber Aserbaidschan, dessen autoritärer Präsident Ilham Alijew sich über Armeniens prowestlichen Kurs beschwert und bei einer ausführlichen Pressekonferenz am 7. Januar 2025 zur „Zerschlagung des Faschismus“ in Armenien aufrief. Zugleich forderte er, dass Armenien 300.000 Aserbaidschaner aufnehmen müsse, die 1988 bis 1990 aus dem damals noch sowjetischen Land vertrieben worden seien. Zu einer gleichzeitigen Rückführung der 2023 aus Berg-Karabach vertriebenen 120.000 Menschen äußerte sich Alijew nicht.
Umso erstaunlicher ist, dass der „Jahressicherheitsbericht 2024“ des Auslandsnachrichtendienstes der Republik Armenien trotz der manifesten Drohungen aus Baku zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Angriff Aserbaidschans aktuell nicht sehr wahrscheinlich sei. (> Siehe unten) Die Autoren des Berichts hoffen, mit den 2024 eingeleiteten Verhandlungen über die Festlegung der armenisch-aserbaidschanischen Grenzziehung den aggressiven Nachbarn einhegen zu können. Immer wieder weist der armenische Außenminister darauf hin, dass im Zuge der Friedensverhandlungen 15 der insgesamt 17 Punkte bereits geregelt seien.
Der Politikanalyst Benjamin Matewosjan kritisierte Alijews Äußerungen scharf, insbesondere seine Beschreibung Armeniens als „faschistischer Staat“. Er fügte aber hinzu, dass Alijews provokative Worte eine „ausgezeichnete Gelegenheit“ für Paschinjan darstellten, als Reaktion darauf bedeutende und alarmierende Zugeständnisse zu machen, darunter die erneute Anerkennung von Bergkarabach als Teil Aserbaidschans, die Einstellung gemeinsamer Militärübungen mit dem Iran und die Ausweisung russischer Grenzsoldaten aus dem Hoheitsgebiet der Republik Armenien (namentlich an den aserbaidschanisch-armenischen Grenzen).
Alijews Äußerungen seien nicht nur ein diplomatischer Affront, sondern ein Versuch, Armenien in die Enge zu treiben und es zu zwingen, kritische Bündnisse und Zugeständnisse rückgängig zu machen, argumentiert Matewosjan. Anstatt der aserbaidschanischen Aggression standhaft entgegenzutreten, scheine die Regierung von Paschinjan bereit zu sein, Alijews Provokationen nachzugeben – eine Vorgehensweise, die laut Matewosjan die territoriale Expansion Aserbaidschans nur noch weiter vorantreiben und die Souveränität Armeniens untergraben werde.
Matewosjan betonte, dass Armenien angesichts der zunehmenden Bedrohungen durch Aserbaidschan nicht entschlossen genug reagiert habe, wodurch das Land anfällig für weiteren geopolitischen Druck sei. Er fragte sich, ob sich Paschinjans Strategie der diplomatischen Beschwichtigung als zielführend erweisen oder ob sie nur zu größeren Zugeständnissen und letztlich zu einer Erosion des regionalen Einflusses Armeniens führen würde.
Am 17. Januar 2025 begannen vor einem Bakuer Militärgericht die Prozesse gegen 16 Armenier aus Berg-Karabach, die im September 2023 beim Versuch der Ausreise nach Armenien festgenommen wurden; acht Personen gehören der ehemaligen Staats- und Militärführung an, darunter Ruben Wardanjan, ein prominenter Geschäftsmann und Philanthrop, der 2022 seine russische Staatsbürgerschaft aufgab und nach Bergkarabach zog, woher ein Elternteil stammte, und im selben Jahr de facto Staatsminister wurde. Er wurde am 27. September 2023 von den aserbaidschanischen Behörden im Latschin-Korridor festgenommen, inmitten der Massenflucht ethnischer Armenier nach der militärischen Machtübernahme Aserbaidschans. Seitdem befindet er sich in Haft und soll mehreren Anklagen ausgesetzt sein, darunter angeblicher „Finanzierung von Terrorismus“ und „Bildung illegaler bewaffneter Gruppen“.
In einem ihm zugeschriebenen und in den Medien veröffentlichten offenen Brief beklagt Wardanjan zahlreiche Verletzungen seiner Menschenrechte, darunter das Recht auf ein faires Verfahren. Dem Schreiben zufolge hat er den größten Teil seiner Haft in Einzelhaft und Strafzellen verbracht, ohne Zugang zu grundlegender Hygiene, während er unter Druck gesetzt wurde, gefälschte rückdatierte Dokumente zu unterzeichnen, und nur einen Monat Zeit hatte, sich und seine Verteidigung mit einer riesigen Menge an Fallmaterial in Aserbaidschanisch vertraut zu machen, einer Sprache, die er nicht versteht. Aus Protest gegen seine Haftbedingungen war Wardanjan vorübergehend in Hungerstreik getreten. Sein Antrag, das Strafverfahren gegen ihn mit dem der übrigen Angeklagten zusammenzulegen, wurde abgewiesen. Ruben Wardanjan werden 16 Straftatbestände zur Last gelegt, den übrigen Angeklagten 24, darunter angeblicher Völkermord, Sklaverei und Deportation.
Dr. iur. Luis Moreno Ocampo, der erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, kritisierte die Verfahren als Schauprozesse in der Tradition des Stalinismus: „Die Geschichte kann es sich nicht leisten, solche Fehler zu wiederholen. Können wir es 2025 besser machen?“ „Amnesty International“ forderte eine „intensive internationale Beobachtung“ eines Prozesses, der offensichtlich den offiziellen aserbaidschanischen Narrativ stützen soll, wonach die Armenier Täter und Besatzer, die Aserbaidschaner indigene Opfer waren. Mithin eine Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses.
Ganz in dessen Sinn hat Aserbaidschan mit der Rückführung von Aserbaidschanern in das entvölkerte Berg-Karabach begonnen. In seinem Interview mit „Mediamax.am“ äußerte der britische Journalist Gabriel Gavin, der als einer von sehr wenigen ausländischen Journalisten die Region nach ihrer „Entarmenisierung“ besuchen durfte, über die Lage der „Rückgeführten“:
„Man sieht diese enormen Bemühungen der Regierung, Geld in die Hand zu nehmen, um Dinge zu verändern, Dinge aufzubauen, um Fortschritt zu zeigen. Aber gleichzeitig ist es wirklich selten, dass man einen gewöhnlichen Aserbaidschaner sieht oder trifft, der von diesem Fortschritt profitiert. Ich habe mich mit Menschen getroffen, die in die von Aserbaidschan als „befreite Gebiete“ bezeichneten Regionen zurückgekehrt sind. Ich habe Menschen getroffen, die sich noch genau an die Stelle erinnern konnten, an der ihr Dorf in den Neunzigern lag. In einigen Fällen wurden ihnen neue Häuser zur Verfügung gestellt, aber ich habe festgestellt, dass es sich in vielerlei Hinsicht tatsächlich um eine Art‚ Potemkinsche Wirtschaft‘ handelt, denn obwohl die Menschen ein Haus bekommen, ist oft nicht klar, wie und wo sie arbeiten werden. Bei meinem letzten Besuch dort traf ich eine Familie, die ein Haus in Latschin erhalten hatte, und der Mann sagte: „Niemand hilft uns, ich kann hier nicht arbeiten“. Das sind die Menschen, für die der aserbaidschanische Staat all dies angeblich tut. Aber sie erzählen mir, dass sie nicht genug Geld für Lebensmittel haben. Wie spiegeln sich diese Prioritäten im aserbaidschanischen Staat wider?“
> Note
„Auf der Grundlage der Analyse verschiedener Fakten, Informationen und Phänomene wird die Wahrscheinlichkeit eines groß angelegten Angriffs Aserbaidschans auf Armenien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts als nicht hoch eingeschätzt. In der Zwischenzeit wird das Risiko lokaler Spannungen und einer Eskalation an der Grenze aufgrund des Fehlens eines Friedensabkommens und zwischenstaatlicher Beziehungen Teil der aserbaidschanischen Politik der Androhung von Gewalt bleiben. Eine mögliche Garantie für die Bewältigung dieses Risikos kann die reibungslose Fortsetzung des 2024 begonnenen Grenzziehungs- und Demarkationsprozesses sein. In diesem Zusammenhang besteht die Aufgabe unseres Dienstes darin, kontinuierlich zu bewerten, ob die konsequente Entwicklung und Finanzierung verschiedener schädlicher Narrative gegen die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität Armeniens durch Aserbaidschan darauf abzielt, seine Absicht, Gewalt gegen Armenien anzuwenden, zu „legitimieren“. Zu diesen Narrativen gehören das sogenannte „Westaserbaidschan und die Westaserbaidschaner“, die „Militarisierung Armeniens“, der „Revanchismus“ und der „Zangezurer Korridor“. – Republic of Armenia, Foreign Intelligence Service: ANNUAL REPORT ON EXTERNAL SECURITY RISKS OF THE REPUBLIC OF ARMENIA. Yerevan 2025, S. 6. https://armenpress.am/storage/content/2025/pdf/Annual_Report_ENGLISH.pdf
[Die Autorin]
Tessa Hofmann ist Autorin und Mitarbeiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zum Thema Armenien.
[Zum Weiterlesen]
Dallmann, Winfried K.; Hofmann, Tessa: Das geopolitische Schicksal Armeniens: Vergangenheit und Gegenwart. Norderstedt 2014, 486 S., 24 Karten, www.amazon.de/Das-geopolitische-Schicksal-Armeniens-Vergangenheit/dp/3759786243?asc_source=01HW8VZ99SQJM9DEFYXBNCY3WX&tag=snxde295-21
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