25-03-2022
Gestohlene Kola: Sámi sind in Russland einer gezielten Assimilierung ausgesetzt
Die indigene Minderheit der Sámi auf der Kola-Halbinsel findet kaum bis wenig Gehör in Europa. Die Sprachwissenschaftlerin, politische Aktivistin und Schamanin, Nina Afanasjeva und ihre norwegische samische „Schwester“ Máret Sárá schildern die Geschichte ihres Volkes.
Máret Sárá.
Von Maria Gmind
Die indigene Minderheit der Sámi auf der Kola-Halbinsel findet kaum bis wenig Gehör in Europa. Die Sprachwissenschaftlerin, politische Aktivistin und Schamanin, Nina Afanasjeva und ihre norwegische samische „Schwester“ Máret Sárá, haben ein kleines Wunder vollbracht: In ihrem gemeinsamen Buch schildern sie die Geschichte ihres Volkes von 1917 bis 2017 – 100 Jahre in Text und unglaublich wertvollen Fotos.
Dieses Buch stellt mit seinen beiden Autorinnen einen großen Glücksfall dar. Mit der Fülle an Fakten und Daten, historischen, politischen und gesellschaftlichen Erklärungen und Berichten führt Máret Sárá uns die letzten 100 Jahre der Sámi auf der Kola Halbinsel anschaulich vor Augen. Ihre Schilderungen sind kenntnisreich und informativ.
Sie greift zurück auf Tacitus, der bereits 98 n.Chr. über das Volk im Hohen Norden berichtet und führt uns die frühe russische Kolonisierung im 12. Jahrhundert vor Augen. Den Schwerpunkt legt sie auf die jüngere Geschichte, die Christianisierung der Sámi um 1500, die ständigen Grenzkonflikte der großen Nationalstaaten Russland, Finnland und Norwegen, zu deren Spielball das sámische Volk wird.
Anfang des 20. Jahrhunderts waren nur noch 20% der Bevölkerung der Kola-Halbinsel Sámi, die Russen und andere kleine Völker, wie die Komi und Nenzen, siedelten sich an. Die Zwangskollektivierung in den 1920er Jahren war eine der größten Bedrohungen für das traditionelle Leben der Sámi. Der 2. Weltkrieg traf die russischen Sámi schwer, sie wurden als Soldaten eingezogen, als Fährtensucher gebraucht und mit ihren Rentieren zum Transport von schwerem Kriegsgerät eingesetzt.
Es kam zum dramatischen Verlust der sámischen Sprache. 1926 gaben noch 94% der Sámi an, ihre eigene Sprache zu sprechen, 1979 waren es nur noch die Hälfte. Diese Entwicklung wurde in den 70er Jahren durch russische und sámische Sprachforscher und Sprachlehrerinnen aufgehalten. Die Sprache hielt wieder Einzug in die Schulen, Kinderbücher und andere Texte erschienen wieder auf Sámisch.
Es kam zur Rückbesinnung auf die eigenen Werte, die eigene Geschichte, die Verbundenheit mit ihren Brüdern und Schwestern: Ein Volk in vier Ländern mit 10 Sprachen und einer gemeinsamen Kultur und Geschichte.
Neben dem Text beeindrucken die Fotos, die uns ebenfalls eine Geschichte erzählen, die im gesamtsámischen Zusammenhang wenig bekannt ist, die Geschichte der Zerstörung ganzer Dörfer. Die Fotos stammen aus dem Privatarchiv der Nina Afanasjeva, die über 300 Fotos akribisch archiviert und dokumentiert hat. Damit gelingt es Nina Afanasjeva, uns mithilfe dieser einmaligen und teils unbekannten Bilder das verlorene Paradies des russischenLapplands auferstehen zu lassen, das Land ihrer Vorfahren, der Ureinwohner der Murman-Küste. Die Fotos sind chronologisch, geographisch und thematisch sortiert.
Jedes Jahrzehnt erhält sein Kapitel. Da Nina Afanasjeva in der siida Arsjok, auf russisch Varzina, aufgewachsen ist, dienen die Fotos von dort als Ausgangspunkt, um die Lebensweise der Sámi zu schildern. Die Zwangsumsiedlung der 1930er Jahre entwurzelte die Sámi zutiefst. Ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete wurden teils zu militärischem Gebiet erklärt, die sámischen Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Wer sich widersetzte, verschwand in den sibirischen Arbeitslagern. Die traditionelle Rentierzucht wurde in staatlichen Kolchosen organisiert, die sámischen Kinder in Internate verschickt.
Stalins Diktatur, der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg setzten den Sámi immer mehr zu! Die Pläne der sowjetischen Zentralregierung, die Kultur der Sámi zu assimilieren, also in der sowjetischen Kultur aufgehen zu lassen, gingen indes nicht auf. Mit der Perestrojka und der Öffnung der Grenzen in den 1990er Jahren, kehrten die wenigen Sámi zurück in ihre Siedlungen und Dörfer. Übrig waren nur die verfallenen Gräber der Vorfahren und einige wenige archäologische Ausgrabungen. Heilige Orte, Steininschriften, Opfersteine und Steinlabyrinthe sind die einzigen Zeugen ihrer weit in die Geschichte zurückreichenden Besiedlung der Kola-Halbinsel.
Nina Afanasjeva gelingt es, uns mitzunehmen auf eine einmalige Reise in die Geschichte der heute rund 2000 russischen Sámi, die die kleinste Gruppe der sámischen Familie ausmacht. Auch wenn die Rentiere heute nicht mehr die Familienzeichen der Sámi tragen und das Angeln in den großen Flüssen Aarsjogk und Penka allein den Touristen zusteht, so ist es den Sámi doch gelungen, sich nach 50 Jahren der Trennung mit ihren Brüdern und Schwestern aus den anderen skandinavischen Ländern zu vereinen und sich mit der Gründung der Kola-Sámi Vereinigung in Murmansk am 3. September 1989 politisch Gehör zu verschaffen.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Sámi stärkt die Kola-Sami, ihre Sprache und Kultur wird sichtbarer durch den unermüdlichen Einsatz vieler mutiger und fleißiger Menschen, zu denen nicht zuletzt Nina Afanasjeva zählt. Sie vernetzen sich mit anderen arktischen Völkern, Ureinwohnern des hohen Nordens, deren Probleme ähnlicher Natur sind.
Sie sind politisch aktiv im Sámischen Parlamentarischen Rat, dem Zusammenschluss der nationalen Sámischen Parlamente und in der Vereinigung der Ureinwohner der Barentsregion, WGIP. Was die Sámi in Norwegen bereits 1988 erlebten, bleibt den russischen Sámi bislang verwehrt: Das norwegische Parlament verabschiedet zur Verfassung des Landes einen Zusatzartikel 110a mit folgendem Wortlaut: „Es obliegt den staatlichen Behörden, die Grundlagen dafür zu legen, dass die Volksgruppe der Sámi ihre Sprache, Kultur und Sozialstruktur sichern und entwickeln kann.“
Das Engagement der Sámi für ihre Rechte auf Land- und Wassernutzung, für ihr Selbstbestimmungsrecht und die Möglichkeit, auch international aktiv zu werden, werden auf russischer Seite noch immer behindert. Das vom Volk gewählte Kolasámi-Parlament wird von der Murmansker Regierung nicht anerkannt. 2012 verfasste die Organisation der Indigenen Völker RAIPON in Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen für die Vereinten Nationen einen kritischen Bericht zur Situation der Sámi in Russland. So kommt Máret Sárá zu dem Schluss, dass es in Russland noch eines weiten Weges bedarf, um demokratische Arbeit zu akzeptieren und demokratische Prozesse zuzulassen.
Trotz der tragischen und dramatischen Geschichte der russischen Sami, erzählen sowohl der Text als auch die Bilder von Menschen mit großem Mut und dem unbeugsamen Willen, als samisches Volk zu überleben. Diese Menschen sind das Herz des Buches, deren tiefe Verbundenheit mit ihrer Kultur, ihrem Handwerk, der einzigartigen Natur und vor allem mit ihrer traditionellen Rentierhaltung zum Vorschein kommt.
Zu den Autorinnen: Die Sámin Máret Sárá (70) aus Karasjok/Norwegisch-Lappland, wurde 2010 ausgezeichnet mit dem nordischen Sprachpreis „Gollegiella“ für ihre umfangreiche Arbeit mit der sámischen Sprache.
Die Sámin Nina Afanasjeva (78) aus Murmansk/Russisch-Lappland erhielt 2012 den nordischen Sprachpreis „Gollegiella“ für ihr umfangreiches Lebenswerk und für den Erhalt der sámischen Sprache.
Beide Frauen setzen sich auf vielen Gebieten seit Jahrzehnten für den Erhalt ihrer sámischen Kultur und Lebensgrundlagen ein.
Das Buch: 159 Seiten, in norwegischer und sámischer Sprache (Nordsámisch) Mit 172 Schwarzweiß- und Farbfotos und 8 Grafiken ISBN: 978-828263-198-3 Zu beziehen über: Forfatternes Forlag Pb 140 9735 Karasjok, Norwegen post@forfatternesforlag.or.
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