24-12-2021
Echte Bedrohung: Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist nicht die übliche Drohgebärde
Von Wolfgang Mayr
Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze ist nicht nur eine übliche Drohgebärde, warnt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations auf ukraine.verstehen.
Gressel ortet ein tiefgehendes Versagen der EU. Die Union bekleckere sich nicht mit Ruhm bei ihren Bemühungen, einen möglichen Krieg abzuwenden.
Gressel beschreibt detailliert genau, welche Einheiten wo einsatzbereit stehen: Die 20. Armee an der nordöstlichen Grenze, die 8. Armee im Gebiet Rostow-am-Don, auf der völkerrechtswidrig besetzten Krim Truppen aus dem Nordkaukasus und Krasnodar. Die 4. Luftarmee im südlichen Militärbezirk und die 6. Luftarmee im westlichen Militärbezirk. Drei Luftlandedivisionen (die 56. in Krasnodar, die 96. und 104. im Raum Moskau) könnten zudem noch relativ kurzfristig verlegt werden. Zehntausende Soldaten an der ukrainischen Grenze vor dem Sprung.
Es ist davon auszugehen, dass dies auch die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten wissen, die EU-Kommission, die Führung der Nato in Brüssel.
Während Russland-Versteher in Deutschland für Verständnis werben, also vor der Angst der russischen Staatsführung vor der angeblichen Nato-Einkreisung, ist Gressel in seiner Analyse recht eindeutig: „Damit wäre die russische Armee schon heute in der Lage, die Ukraine erfolgreich anzugreifen – wenn auch nicht dauerhaft zu besetzten. Die Zeit um Weihnachten, wenn im Westen Entscheidungen etwas länger dauern – könnte bereits gefährlich werden,“ warnt Gressel vor der üblichen westlichen Verharmlosung der aggressiven russischen Politik. „Die russischen Kriegsvorbereitungen sind also als ernsthaft zu betrachten,“ ist Gressel überzeugt, „die öffentliche Meinung in Russland scheint einen Krieg derweil zu unterstützen.“
Gustav Gressel erwartet, „dass Moskau eine militärische Aggression zunächst mit begrenzten Zielen beginnt: eine Offensive der ´Separatisten` würde noch keine formelle russische Kriegsbeteiligung bedeuten“. Wie schon 2014, damals schauten EU und Nato entsetzt aber hilflos zu. Ob der russische Präsident Putin darauf setzt? „Obwohl die Ukraine formell kein NATO-Mitglied ist, sollte ihr Überleben als unabhängiger, souveräner Staat den Europäern nicht gleichgültig sein,“ appelliert Gressel an die europäische Solidarität. Die militärische Unentschlossenheit des Westens könnte Putin dazu bewegen, in die Ukraine einzumarschieren. Er erwartet keinen westlichen Widerstand.
Gustav Gressel wagt eine Provokation: „Wenn wir heute nicht für die Ukraine kämpfen wollen, werden wir morgen für uns selbst kämpfen müssen.“ Von einem europäischen Dialog mit Präsident Putin hält Gressel wenig, auch deshalb, weil der russische Präsident gar keinen Dialog will. Russland richtet seine Waffen gegen die Ukraine und damit auch gegen die EU. Das verdrängen die westlichen Russland-Versteher. Russland fördert derzeit als Pate die serbischen Nationalisten in Bosnien, die den labilen Staat zerschlagen wollen. Die UNO, die EU und die Nato lassen das serbische Säbelrasseln widerspruchslos zu. Unter der Schirmherrschaft von Putin holte der weißrussische Neostalinist Lukaschenko MigrantInnen aus Irakisch-Kurdistan an die polnische Grenze, die die EU-Außengrenze zu Belarus ist. In Zusammenspiel mit der Türkei führt Russland in Syrien den Westen vor.
Gressel sieht im Aufmarsch der russischen Armee mehr als eine Drohgebärde. Der Westen wird wieder einknicken, befürchtet Gustav Gressel, der Truppen-Aufmarsch ist wie eine vorgehaltene Waffe, der Westen wird nachgeben. Ein Erfolgsmodell, siehe Krim, siehe die russischen Interventionen im ukrainischen Donbas, deshalb einsetzbar und zielführender als Verhandlungen mit offenem Ausgang. Für Gressel eine gefährliche Entwicklung: „Russland ist nur durch Stärke und militärischer Abschreckung beizukommen. Je früher, desto besser.“
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