19-08-2022
Der „andere“ Indianerkrieg
Der deutsche Revolutionär Carl Schurz und der Allotment Act als Generalplan für den Ethnozid
Von Wolfgang Mayr
In seinem Buch „Seit 200 Jahren ohne Verfassung“ zum US-Jubiläum 1976 benennt GfbV-Beirat Claus Biegert die „Indianer-Politik“ als Ethnozid. Die angestrebte Integration der überlebenden ersten Amerikaner lief auf deren „Auflösung“ hinaus, fasste Biegert das Ziel der US-Politik zusammen.
Nach der Niederschlagung des militärischen Widerstandes mussten die besiegten Stämme ihr Land abtreten, sie wurden in Gebiete abgedrängt, für die sich die weißen Siedler noch nicht interessierten. 1871 gab es den „Wilden Westen“ nicht mehr. Fünf Jahre später, 1876, lehnten sich nochmals die Lakota, die Dakota, die Arapaho und die Cheyenne zum letzten Mal gegen die US-Übermacht auf. Die Schlacht am Little Bighorn ging erfolgreich für die vereinigten Stämme aus, der Krieg war aber verloren.
In den Reservaten hielten die Besiegten verzweifelt an ihren Traditionen fest, an ihren Sprachen, ihren Großfamilien, am kollektiven Landbesitz. Eine große Gefahr, stellten Ex-Militärs und korrupte Beamte der Indianerbehörde BIA – als Teil des Kriegsministeriums 1824 gegründet – in ihren Berichten fest. Ihre Empfehlung, diese andere Lebensweise zu verbieten. Eine Lebensweise, die die „Integration“ bremst, wenn nicht gar verhindert.
Ausgerechnet ein ehemaliger deutscher Revolutionär, Carl Schurz, würgte als republikanischer Innenminister die indianische Autonomie ab. Bei seinem Amtsantritt 1877stellte Schurz klar, dass er gar nicht daran denke, die von den USA unterschriebenen Verträge einzuhalten. Der Innenminister lehnte auch entsprechenden Klagemöglichkeiten gegen Übergriffe ab. Der ehemalige radikaldemokratische Schurz untersagte auch Fördermaßnahmen zugunsten der Reservats-Gemeinschaften im selbstbestimmten Ausmaß.
Schurz hatte nur ein Ziel, die Assimilation der Überlebenden der US-Landnahme zu erzwingen: Die Aufteilung der Reservate in Privatparzellen („Allotment“), der Verkauf des nicht verteilten Landes an weiße Siedler, die Verschickung indigener Kinder zur Umerziehung in Internate sowie die Auflösung aller indigenen Organisationen. Kurzum, sie sollten zu US-BürgerInnen werden, erst dann käme rechtliche Gleichheit infrage.
Die Sponsoren dieser Politik des Ethnozids, des legalen Land- und Kinderraubes, waren Bergbau- und Eisenbahngesellschaften und weiterhin landhungrige weiße Siedler. 1879 gründete das Innenministerium das Carlisle Indian Industrial School in Pennsylvania. In dieses Internat wurden über Jahrzehnte Mädchen und Jungen verschiedener Stämme zwangsweise eingewiesen, fernab von Eltern und Familie in einer ihnen fremden Zivilisation.
Carlisle wurde zum „Erziehungs- und Bildungsmodell“, den Kindern wurden die langen Haare geschnitten, ihre Sprachen strikt verboten, genauso ihre Religion. Innenminister Schutz warbbegeistert für diese Einrichtung. In der Folge entstanden die sogenannten Boarding Schools. Diese Schulen brachen tausenden SchülerInnen das kulturelle Genick, viele starben, viele wurden misshandelt und missbraucht. Eine immer noch nachwirkende Katastrophe. Die Nachfolgerin von Carl Schurz im Innenministerium, die Puebla und Demokratin Deb Haaland, lässt derzeit die Geschichte dieser Schulen aufarbeiten.
Die Verantwortlichen der Internate, meist Missionare, verunglimpften sämtliche Werte, die den Kindern in ihrer traditionellen Erziehung beigebracht worden waren. Die folgende kulturelle Depression bestimmte – belastete – ihr zukünftiges Leben. Diese von Schurz initiierten Schulen waren erfolgreich, die Sprachenvielfalt brach ein, die Sprachenerosion ließ diese Vielfalt schrumpfen. Nur ein Bruchteil der indianischen Sprachen überlebte diese Politik des Ethnozids.
Nicht nur die Sprachen waren den Assimilierern ein Dorn im Auge, um Claus Biegert zu zitieren, sondern auch die Basis der indianischen Ökonomie, der kollektive Landbesitz. Eine gewaltige Hürde, gar ein Hindernis auf dem Weg in die Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft, stellten die vielen Berichteschreiber aus den Reservaten warnend fest. Es war kein Zufall, dass Schurz sein assimilierendes Schul-Modell im gleichen Jahr auf dem Weg brachte wie seinen Gesetzesentwurf zur Auflösung der Reservate.
1879 schickte Schurz einen Gesetzentwurf an den Kongress, laut dem die Reservate in 65-Hektar-Parzellen auf- und an die dort Ansässigen verteilt wurden. Der große Rest wurde den weißen Siedlern zum Verkauf angeboten. Eine Art Privatisierung von kollektivem Grund und Boden. Schurz begründete die Auflösung der Reservate öffentlichkeitswirksam mit dem Hinweis auf den vielfältigen Wunsch der Betroffenen, private Eigentumstitel zu erhalten.
Dieser Zuspruch war nur angeblich, Innenminister Schurz nahm nämlich keine Rücksicht auf die Ansichten „unzivilisierter Indianer“. Ihnen sollen die politischen Schlussfolgerungen aufgezwungen werden. Und zwar die Assimilation in die unteren Gesellschaftsschichten. Soziale Zweitklassigkeit.
Der Kongress genehmigte 1887 den General Allotment Act, angeregt von Innenminister Schurz, ausformuliert vom republikanischen Senator Henry L. Dawes. Die weitreichenden Folgen: Bis 1934 wurde ein Reservat nach dem anderen für den Ausverkauf freigegeben wurde. Zwei Drittel des 1887 verbliebenen indianischen Landes gingen verloren. Vier Bestimmungen in diesem Act hatten es in sich:
Das Reservatsland wurde in 64 Hektar große Flächen parzelliert und an die jeweiligen Familienoberhäupter zur Nutzung zugeteilt. Alle unverheirateten Reservatsbewohner über 18 Jahre und minderjährige Waisen erhielten 32 Hektar, Kinder unter 18 Jahre 16 Hektar und die Ehefrauen erhielten nichts. Waren die Parzellen nur Weideland, musste die Größe verdoppelt werden.
Die US-Regierung verwaltete während der ersten 25 Jahre als Treuhänderin das zugewiesene Land, erst dann gingen die Parzellen ins Eigentum der Reservatsbewohner über.
Berechtigte Personen mussten innerhalb von vier Jahren ihr Land auswählen, danach wies das Innenministerium ihnen das Land zu.
Jeder Reservatsbewohner, der „die Gewohnheiten des zivilisierten Lebens angenommen hat“ (also getrennt vom Stamm), erhält die US-Staatsbürgerschaft. Das Recht auf Stammes- oder anderes Eigentum wurde dabei weder beeinträchtigt oder anderweitig beschränkt.
Die Ziele dieser Privatisierungen von Stammesland waren klar: Das Gemeinschaftsgefüge soll gebrochen und die Angehörigen dieser Gemeinschaften als Farmer in die amerikanische Gesellschaft integriert werden.
Das zweite Ziel war ein großes Geschäft, die Regierung verkaufte durch die Parzellierung freigewordenes überschüssigen Land mit Gewinn an Weiße. 55 Millionen Hektar groß war 1887 das gesamte Reservatsland, 36 Millionen Hektar bestes Land wurden an Weiße verscherbelt. Das an die Reservats-Bürger verteilte parzellierte Land wurde ein Viertel Jahrhundert langt vom BIA „treuhänderisch“ verwaltet. Die Parzellierung als Folge des Dawes Act – des General Allotment Acts – führte zu einer unbeschreiblichen Verelendung.
Gleichzeitig wurde das Reservatslandes aufgesplittert. Beispielsweise wurde das große Lakota-Reservat in den beiden Bundesstaaten North- und South Dakota in sechs kleinere aufgeteilt. Ein Beispiel von sehr vielen. Die indigenen Neu-Farmer scheiterten mit ihrem landwirtschaftlichen Experiment, außerdem verdrängte die Industrialisierung die kleinen bäuerlichen Betriebe. Die erfolglosen Neo-Bauern verpachteten ihr Land an ihre weißen Nachbarn. Diese Landverpachtungen damals wirken auch heute noch nach. Das BIA „verwaltete“ die Pachteinnahmen „treuhänderisch“ für die Verpächter. 1996 reichten 500.000 indianische Landeigner eine Sammelklage gegen die US-Regierung ein, weil sie meist nur wenige Cents Pachteinnahmen vom BIA erhielten.
In der Folge bestätigten – unglaublich, aber wahr – das Innen- und das Finanzministerium, über Jahrzehnte keine Buchhaltung über Land und Konten geführt zu haben. Die juristische Auseinandersetzung endete im Dezember 2009 mit einem Vergleich über eine Gesamtsumme von 3,4 Milliarden Dollar. 1,4 Mrd. Dollar wurden den Klägern zugesprochen, bis zu zwei Milliarden Dollar sind für den Wiederankauf der unter dem Dawes Act verteilten Landflächen vorgesehen. Die Regierung von Präsident Barack Obama unterzeichnete ein entsprechendes Gesetz 2010.
Nicht alle Stämme waren von der Parzellierung betroffen, wie das große Navajo-Reservat – das Dinetah – und der gesamte Südwesten. Verschont blieben auch die Seneca im Bundesstaat New York und die Menominee im Bundesstaat Wisconsin. Überschaubare Sonderfälle.
Besonders hart traf es die meist aus dem US-Osten nach Oklahoma vertriebenen ersten Amerikaner zwischen den Großen Seen und Florida. Zwei Jahre nach in Kraft treten des General Allotment Act, 1889, wurde des Westteil von Oklahoma – das Land der Kiowa, Comanchen, Apachen und weiterer kleinerer 16 Ureinwohner-Gemeinschaften – zur weißen Besiedelung freigegeben. Land, das die USA den Vertriebenen zugesichert hatten, solange das Gras wächst und das Wasser fließt.
Der östliche Landesteil, das Indian Territory, die neue Heimat der Fünf Zivilisierten Stämme, wurde ebenfalls restlos aufgelöst, zerschlagen. „Sie verloren gleichzeitig ihre eigene Regierung, ihre eigenen Gerichtshöfe, ihre Häuptlinge, die Kontrolle über ihre Schulen: ihr gesamtes gut funktionierendes Organisationssystem wurde ohne Rücksicht auf ihren Einspruch eliminiert,“ beschreibt Claus Biegert „Seit 200 Jahren ohne Verfassung“ die Zerschlagung des Indian Territory.
Der Allotment Act-Verfasser Senator Dawes besuchte vor der Einführung seines Gesetzes zum Landraub das Indian Territory. Er war angetan vom sichtbaren Wohlstand. Alle Familien lebten in ihren Häusern, es gab keine armen Menschen, Schulen und Krankenhäuser waren Ausdruck eines Wohlfahrtsstaates, ungewöhnlich im Mittleren Westen. Trotzdem, Dawes störte der kollektive Landbesitz und die fehlende Konkurrenz. Das Argument für das „Todesurteil“ für das Indian Country.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der vom ehemaligen Präsidenten Trump mit reaktionären Richtern besetzte Oberste Gerichtshof 2020 entschied, dass das Indian Territory noch immer besteht. Zum Ärger der in Oklahoma regierenden stockkonservativen Republikaner. Im Juli 2022 kassierte der Gerichtshof einen Teil seines ursprünglichen Urteils zugunsten der Stammes-Nationen wieder ein.
74 Jahre nach dem „General Allotment Act“ startete die republikanische Regierung einen weiteren Angriff auf das um zwei Drittel geschrumpfte Indian Country. Mit der „House Concurrent Resolution 108“, bekannt geworden als Termination, sollte das Indian Country restlos aufgelöst werden, Teil 3 der Serie „der andere Indianerkrieg“.
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