Chile

Werden die autochthonen Völker die großen Verlierer des Verfassungsreferendums sein?

Von Wolfgang Mayr

Am 4. September stimmen die ChilenInnen über eine neue Verfassung ab. Ein Konvent unter der Leitung der Mapuche-Intellektuellen Elisa Loncón arbeitete in den vergangenen Monaten einen Entwurf für eine neue Verfassung aus. Eine demokratische, pluri-nationale, eine soziale und eine ökologische Verfassung. Dieser Entwurf bricht mit der Vergangenheit der Militärdiktatur, mit ihrem Terror, mit ihrer Verfolgung unter dem Schutzschirm der USA.

Dem vorausgegangen waren 2019 heftige soziale Proteste gegen die neoliberale, reaktionäre Regierung. 2020 stimmten die ChilenInnen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, also gegen die Verfassung der Militärdiktatur. Eine Verfassung, die die mehr als zwei Millionen Angehörigen der autochthonen Völker – fast 13 Prozent der chilenischen Bevölkerung – in ihrer Existenz und ihren Rechten nicht anerkennt.

Mit weitreichenden Folgen: Wasser und Bodenschätze auf den Gebieten der autochthonen Gemeinschaften werden von der Verfassung nicht geschützt.  Genauso wenig das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die UN-Erklärung der Rechte indigener Völker, rechte und linken Regierungen setzten sich darüber hinweg.

Die Konzerne erhielten Freibriefe zum grenzenlosen Plündern der Heimatregionen der autochthonen Völker, Proteste dagegen schlugen Polizei und Armee nieder. Die Nachfahren der Ureinwohner-Völker sind nur dürftig im Parlament vertreten, sie sind auch wirtschaftlichen ausgegrenzt: Sieben von zehn der ärmsten Gemeinden befinden sich in der Region La Araucanía der Mapuche. Eine innere Kolonie.

Die Folgen der sozialen Proteste von 2019 waren ein „Übereinkommen über den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ und damit verbunden die Einrichtung einesverfassungsgebenden Konvents. Die mitwirkenden VertreterInnen der verschiedenen autochthonen Völker formulierten ihre Ziele unmissverständlich: Das Recht auf politische Vertretung, die Anerkennung ihrer Rechte und die Festschreibung eines plurinationalen Staates. Im Entwurf wurden Forderungen aufgenommen, die die Partei der Mapuche Wallmapuchen, die Bewegung Lafkenche, die Vereinigung der von Mapuche geführten Kommunen (AMCAM) und der Rat der Atacameños aus dem Norden Chiles immer wieder erhoben haben.

Die Organisation Coordinadora Arauco Malleco, die für einen autonomen Mapuche-Staat in der Region La Araucanía kämpft, kritisiert die Teilnahme am Verfassungsprozess als einen kolonialen Prozess, der den Kampf für Autonomie einbremst.

In einem Offenen Brief unterstützten mehr als 40 Organisationen der autochthonen Bevölkerungsgruppen die Arbeit des Verfassungskonvent für eine neue Verfassung und für ein neues Chile: „Es ist an der Zeit, dass der chilenische Staat sich an die Umstände anpasst und den dringenden Forderungen der Völker, sowohl der Chilenen als auch der Mapuche, nachkommt.“ Letztendlich geht es darum, „eine historische Schuld an der indigenen Bevölkerung durch demokratische Mechanismen der Partizipation zu begleichen“.

Mit der Wahl des undogmatischen Linken Gabriel Boric zum Präsidenten, erhielt der Verfassungskonvent neuen Schwung. Diesen nutzten die Präsidentin, die Mapuche Lonconund die übrigen VertreterInnen der autochthonen Völker. Die Solidaritätsplattform amerika21 zitiert ein Mitglied des Konvents mit der Aussage, „sie waren immer hier, aber wir haben sie nicht gesehen.“ Nie zuvor ist in Chile etwas Vergleichbares passiert. „Sie“ sind die Mapuche, Aymara, Rapa Nui, Atacameño, Diaguita… indigene Völker, auf die nie gehört wurde, arbeiten an der neuen Verfassung mit.

Auf der Seite Verfassungsblog würdigt die Europa- und Völkerrechtlerin Svenja Bonnecke den vorliegenden Verfassungsentwurf: „Chile ist, laut dem ersten Artikel der neuen Verfassung, ein regionaler, plurinationaler und interkultureller Staat. Gleichzeitig ist im fünften Artikel über den Staatsaufbau zu lesen, dass die Regionen, die Gemeinden und die Gebiete der indigenen Bevölkerung autonom sind.“ Normen die belegen, dass es mehr Gestaltungsspielraum für die autochthonen Völker geben wird. Artikel 10 gewährleistet die Anerkennung und Förderung der indigenen Völker und deren Sprachen.

Die Autonomie darf aber die staatliche Einheit nicht gefährden, eine territoriale Abspaltung ist eine Straftat. Die autonomen Regionen erhalten einen eigenen Haushalt. Die Mehrheit der Verfassunggebenden Versammlung lehnte aber weiterreichende Kompetenzen der regionalen Regierungen ab. Begründung: Die angestrebte weitreichende politische, finanzielle und administrative Autonomie einzelner Regionen (Artikel 18 über den Staatsaufbau) gefährdet angeblich den unteilbaren Charakter und die Einheit des Staates.

Immerhin schaffte es aber der Konvent, den Staat als plurinational zu beschreiben. Eine radikale Veränderung, die Pinochet-Verfassung erkannte die Existenz der autochthonen Bevölkerungsgruppen nicht an. Die Anerkennung der ersten ChilenInnen und ihrer Regionen führt auch zur Einsetzung einer Regionalkammer, der sichtbare Ausdruck der Dezentralisierung des Staates und der Einschränkung der bisherigen absoluten zentralisierten Macht der Hauptstadt. Der bisherige Senat soll aufgelöst werden. Das Referendum ist zweifelsohne eine Richtungsentscheidung.

Die Richtungsentscheidung wurde aber aufgrund der Interventionen der alten Elite, des alten Regimes, der Sicherheitskräfte und der Armee – amerika21 spricht von den „Mumien“ – gehörig eingedämmt. Die Regierungsparteien knickten gegenüber dem Druck von rechts ein und verwässerten den neuen Verfassungstext in grundlegenden Fragen. Wesentliche Inhaltewurden gekippt. So sollen die weitgehenden Rechte der autochthonen Gemeinschaften wieder eingeschränkt  und die Verhängung des Ausnahmezustandes aus der alten Verfassung  unverändert beibehalten werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

Zurück zur Home-Seite