06-12-2021
Belarus: Spurensuche in der Zukunft

Von Wolfgang Mayr
Dekoder präsentiert mit dem Projekt Belarus: Spurensuche in der Zukunft in Zusammenarbeit mit der S. Fischer Stiftung sechs Essays von belarussischen Autorinnen und Autoren. Essays, die Frage nach der Zukunft für Belarus kreisen. Die Texte werden in der deutschen Übersetzung auf dekoder.org veröffentlicht (Russische Version auf Colta.ru). Die belarussische Künstlerin Tosla steuert mit ihrem Projekt „Knoten der Hoffnung” (russisch: usel nadeshdy) Illustrationen zu den einzelnen Essays bei.
Beispiel Minsk-21 – Transitzone von Zichan Tscharnjakewitsch
Der 1968 in Pinsk geborenen Tscharnjakewitsch gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In seinem Text „Minsk-21 Transitzone“ beschreibt er die aktuelle Lage vieler seiner Landsleute, nach einem Jahr der harten Repressionen. Dekoder schreibt: „Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.“
Dem Neo-Stalinisten Lukaschenko ist es unter der Schirmherrschaft des russischen Präsidenten Putin gelungen, die Protestbewegung niederzuschlagen. Ganz nach dem Vorbild der Politik der untergegangenen blutigen Sowjetmacht, die in ihren Warschauer Pakt-Kolonien DDR, Ungarn, CSSR und Polen brutal den Widerstand unterdrückte: die Volksaufstände in Ungarn und in der DDR, den Prager Frühling, die Solidarnosc in Polen. Dieses alte Konzept ist immer noch effizient.
Viele BelarusInnen sind im Gefängnis, AktivistInnen geflohen ins Ausland, die Zivilgesellschaft in der Zwangsjacke. Es herrscht Friedhofsruhe, „Normalisierung“, wurde nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die folgende Ära übertitelt. Die Repression geht trotzdem weiter, schreibt Zichan Tscharnjakewitsch in Minsk-21, Transitzone:
„Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.“
Mehr in: Minsk-21, Transitzone | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung
Und weitere Texte über die Spurensuche:
Belarus bin ich! | дekoder | DEKODER | Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung
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