Autonomie für den Sindschar im Irak?

Nach mehrfachen Völkermordverbrechen verlangen die Jesiden des Sindschar vom Irak nicht nur mehr Schutz, sondern auch echte Selbstverwaltung nach demokratischen Prinzipien innerhalb der Staatsgrenzen. Ein erneuter Genozid könnte zur völligen Vernichtung einer der ältesten religiösen Gemeinschaften im Nahen Osten führen.

Von Thomas Benedikter

Die gebirgige Region Sindschar im Norden des Irak erlangte traurige Berühmtheit im Sommer 2014, als Milizen des IS die hier lebenden Kurden und Jesiden (auch Yezidi oder Eziden) überfielen. Vor allem die Jesiden mit ihrer uralten vom Christentum und Islam verschiedenen Religion waren im Visier des IS, der das Jesidentum als „heidnische Religion aus vorislamischer Zeit“ betrachtet. Die Stadt Sindschar wurde eingenommen, der Großteil der Dörfer des Gebirges zerstört, die Bewohner teils ermordet, teils vertrieben. Frauen, die nicht fliehen konnten, wurden verschleppt und versklavt. Eine Bürgerwehr der Jesiden (YBS) konnte im Sommer 2015 mit Unterstützung von Kämpfern der YPG aus Nordsyrien/Rojava, den Peschmerga der Autonomen Region und der PKK einen Fluchtweg für bis zu 30.000 Jesiden freikämpfen und die Kontrolle über das Gebiet wieder herstellen. 

2017 rücken wieder irakische Kräfte ein

2017 hat sich die Lage im Nordirak erneut verschoben. Im Zuge der von den USA unterstützten Anti-IS-Kampagne kehrten die irakischen Streitkräfte in den Norden zurück, unterstützt von den Milizen der irakischen Volksmobilisierung (al-Hashd al-Shaabi). Sie eroberten Mossul zurück, die letzte Stadt unter IS-Kontrolle. Dann ging die Hashd noch einen Schritt weiter. Nachdem ein von der kurdischen Regionalregierung organisiertes Unabhängigkeits-referendum 2017 gescheitert war, drängten sie die KDP aus dem Sindschar und ließen sich auf eine unbehagliche Zusammenarbeit mit den dort bereits lange aktiven PKK-Ablegern ein.

Die KDP war zwar immer noch formell befugt, den Sindschar zu regieren, übte ihre Macht jedoch von außerhalb des Bezirks und sogar des Governorats Ninawa, zu welchem der Sindschar gehört, aus. Innerhalb des Sindschar hat die Haschd ohne den Segen der Bundesregierung in Bagdad einen Ersatzbürgermeister und Unterbezirksdirektoren ernannt, wie die ICG in einem aktuellen Bericht ausführt. Die YBŞ, die hauptsächlich aus Jesiden sowie einer kleinen Zahl von Arabern besteht, hat hingegen eine eigene “ Sindschar-Selbstverwaltung“ eingerichtet, die versucht, einige Verwaltungsaufgaben zu erfüllen, ohne über die erforderliche Autorität und Finanzen zu verfügen. Aufgrund der unklaren Situation zwischen Bagdad und Erbil und der Präsenz verschiedener bewaffneter Gruppen geriet der Sindschar zunehmend zwischen die Mühlsteine des Einflusses aus der Türkei und dem Iran – eine bedrohliche Situation.

Das Abkommen vom Oktober 2020: nur ein erster Schritt

Nun strebt die Autonome Region Kurdistan seit langem die Kontrolle über den Sindschar an, um ihn der kurdischen Region anzugliedern. Die KDP und ihre Peschmerga-Kämpfer zogen schon 2003 in den Sindschar ein und übernahmen die örtlichen Eliten, um die routinemäßigen Verwaltungsaufgaben zu übernehmen. Sie erlangte jedoch wenig Popularität. Insbesondere behandelte sie die Jesiden als Kurden, wodurch sie ihre eigene kommunale Identität leugnete und Ressentiments schürte.

Am 3. August 2020 kündigte der Präsident der Autonomen Region Kurdistan Masud Barzani an, die Region Sindschar eingliedern zu wollen. Am 9. Oktober 2020 kam es zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Regierung der Autonomen Region Kurdistan zu einer vorläufigen Einigung zum Sindschar, der in Einklang mit der irakischen Verfassung von einem bloßen Distrikt zu einem eigenen Governorat umgewandelt werden soll. Doch bietet dieses Abkommen eine langfristige Lösung mit echter Sicherheit und Rückkehrperspektive für die geflüchteten Jesiden und einem Mindestmaß an Selbstverwaltung? 

Sindschar: Heimat der Jesiden

Die Mehrheit der Bevölkerung des Distrikts Sindschar, Teil der Provinz Ninava im Norden des Irak, wird von der Religionsgemeinschaft der Jesiden gebildet, die ethnisch-sprachlich zu den Kurden gezählt werden und Kurmandschi sprechen. Weitere 400.000 Jesiden leben in der Autonomen Region Kurdistan-Irak und im Ausland, vor allem in Deutschland. Die Provinz Ninava (Ninive) ist insgesamt ethnisch und religiös vielfältig. Neben den sunnitischen Kurden und kurdischsprachigen Jesiden leben hier auch Araber, Turkmenen, Chaldo-Assyrer, Kakai und Mandäer.

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In der heutigen Verfassung des Irak werden die Jesiden zwar erwähnt, aber keine konkreten Schutzrechte definiert. Wie zuvor schon jahrhundertelang im Osmanischen Reich sind die Jesiden im Irak in zweifachem Sinn verfolgt und diskriminiert worden, zum einen als kurdischsprachige Minderheit, zum anderen als Nicht-Muslime. Die Jesiden selbst haben Anfang 2015 einen „Rat der Jesiden“ und Selbstverteidigungseinheiten (YBS) gegründet, der sich in allen Belangen für die Interessen der Volksgruppe einsetzen soll. Zwar wollen alle Parteien der Autonomen Region Kurdistan, aber auch die PYD Nordsyriens und die PKK die Jesiden unterstützen, doch gibt es keine gemeinsame Zielvorstellung und Strategie unter den kurdischen Parteien. Viele Jesiden sehen sich in der Autonomen Region Kurdistan politisch nicht repräsentiert, so die ICG, teils sogar angefeindet. 

Gefragt ist eine gemeinsame lokale Verwaltung 

Die Lage im Sindschar ist heute ziemlich verworren. Bislang sind nur Teile des Abkommens von 2020 in Kraft, da die Interessen der lokalen Akteure, die YBȘ und die verschiedenen Hashd-Gruppen, zu wenig berücksichtigt wurden. Die YBȘ, zu der auch die „Sindschar-Selbstverwaltung“ gehört, lehnt das Abkommen ab, in dem ihre Rolle im Distrikt nicht nur nicht erwähnt, sondern gänzlich ausgeschlossen wird. Die vor allem aus schiitischen Gruppen gebildete Haschd, eigentlich Bagdad untergeordnet, betrachtet das Abkommen als gegen sie gerichtet an, weil es die Verantwortung für die Sicherheit des Gebiets auf die regulären Streitkräfte des Verteidigungs- und Innenministeriums übertragen will. Andere jesidische Organisationen, Parteien und Persönlichkeiten begrüßten die Einigung vom Oktober 2020, doch betrachten sie die politische Selbstvertretung als völlig unzureichend.  Ohne stabilen politischen Rahmen würden die geflüchteten Jesiden nicht in ihre Heimat zurückkehren. 

Die Jesiden wollen bei der politischen Neuregelung der Region, bei der Sicherheitsstruktur und beim Wiederaufbau einbezogen werden. Nach dem IS-Überfall 2014-15 verlangen die Jesiden, besser gegen Bedrohung geschützt zu werden: gegen die Türkei, schiitische Milizen, im Untergrund aktive IS-Kämpfer. Von Sindschar darf auch keine Feindseligkeit gegenüber Nachbarländern ausgehen, die wiederum zu militärischen Übergriffen auf den Sindschar führen. Die Besetzung der wichtigsten Verwaltungsposten und die Wahl von Lokalvertretungen müssen mit den Jesiden organisiert werden.

Die Dringlichkeit, das Abkommen von 2020 rasch und vollständig umzusetzen, wurde im Mai 2022 deutlich, als es zu Zusammenstößen zwischen der Armee und der YBȘ in einem der Sindschar-Unterbezirke kam. Solche Auseinandersetzungen nehmen zu und legen eine unbewältigte Herausforderung offen, nämlich das Schicksal der YBȘ. Diese ist zwar mit einer externen Gruppe, der PKK, verbunden, besteht aber selbst aus Sindschari, d.h. irakischen Bürgern, die ein recht auf lokale Selbstverwaltung beanspruchen. 

Autonomie als dauerhafte Lösung?

Nach mehrfachen Völkermordverbrechen verlangen die Jesiden des Sindschar vom Irak nicht nur mehr Schutz, sondern auch echte Selbstverwaltung nach demokratischen Prinzipien innerhalb der Staatsgrenzen. Ein erneuter Genozid könnte zur völligen Vernichtung einer der ältesten religiösen Gemeinschaften im Nahen Osten führen. Theoretisch hat die Bevölkerung des Sindschar gemäß Art. 140 der Verfassung Iraks das Recht, selbst über ihren Status innerhalb des Irak zu entscheiden. Laut Verfassung wären die Bürger dieses Teilgebiets der Provinz Ninava befugt, mit Volksentscheid eine eigene Provinz mit einem frei gewählten Gouverneur auszurufen. Dies wäre im Fall Sindschar aufgrund seiner ethnisch-religiösen Besonderheiten und der erlittenen Verfolgung auch legitim. Aus sprachlichen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen wäre es jedoch sinnvoller und zweckmäßig, den Sindschar in die bestehende Autonome Region Kurdistan einzugliedern. In diesem Rahmen könnte das Gebiet einen Sonderstatus erhalten, um dem Minderheitenschutz gerecht zu werden. Dies müsste sowohl in der irakischen Verfassung als auch im Autonomiestatut Kurdistans verankert werden unter klarer Abgrenzung der Verantwortungsbereiche, der Vertretungsrechte im Parlament Kurdistans, der Konkordanzdemokratie in den Institutionen der neuen Provinz, der Finanzierung und der Grenzziehung. Auch die militärische Sicherheit wäre durch die Zuständigkeit der kurdischen Peschmerga unter Einbeziehung jesidischer Einheiten besser gewährleistet.

In langfristiger Perspektive scheint eine arabisch-irakische Souveränität über dieses Gebiet nicht im Einklang mit den Lebensinteressen der Jesiden, der Kurden und anderer ethnisch-religiöser Minderheiten zu stehen. Langfristig wird Irakisch-Kurdistan die Unabhängigkeit erreichen, für die sich am 25. September 2017 über 90% der Wählerschaft in einer freien Volksabstimmung ausgesprochen hat. Die Zukunft der Jesiden liegt im Verbund mit den Kurden, welchen sie ethnolinguistisch zugehören. Die Mehrheit der Jesiden des Irak lebt bereits in der Autonomen Region Kurdistan. Im Rahmen Kurdistans könnte Sindschar einen autonomen Status erhalten, um der ethnisch-religiösen Besonderheit des Gebiets gerecht zu werden. Territorialautonomie bietet ein hohes Potenzial für eine stabile Neuordnung, für Minderheitenschutz und Selbstbestimmung im gesicherten Rahmen.

Zur Vertiefung: Thomas Benedikter (2021), Autonomie weltweit, 100 Jahre moderne Territorialaunomie, LIT, Berlin/Münster

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