10-04-2023
Arzach noch immer unter Blockade
Und wie weiter?

Von Sivizius - Eigenes Werk, Arzach und umgebende Staaten von 1994 bis 2020 von Arzach beherrscht, ehem. autonomes Bergkarabach von Arzach beherrscht, außerhalb des früher autonomen Bergkarabach von Aserbaidschan beherrscht, aber von Arzach beansprucht
Von Tessa Hofmann
Es begann Anfang 2022 mit vollständigen oder teilweisen Sperrungen der Strom- und Gaszufuhr durch Leitungen, die von Armenien durch den „Latschiner Korridor“ nach Stepanakert, der Hauptstadt des von Aserbaidschan noch unkontrollierten Teils von Arzach (Berg-Karabach) verlaufen. Vom 13. Dezember 2022 bis Mitte März 2023 erfolgten an 34 Tagen Gasunterbrechungen. Um die Stromausfälle auszugleichen, musste Arzach den Pegel seines größten Stausees, des Sarsang-Stausees, zur Stromerzeugung absenken. Die Erderwärmung tut ihr Übriges, denn der vorige Winter und das jetzige Frühjahr verliefen überdurchschnittlich niederschlagsarm.

März 2023: Gesunkener Pegel des Sarsang-Stausees
Mit seinen Attacken auf die Stromversorgung Arzachs schneidet sich Aserbaidschan allerdings auch ins eigene Fleisch, denn von den Wassern des Sarsang-Stausees hängt auch das von Aserbaidschanern bewohnte Unterkarabach in der Kuraebene ab. Bereits im August 2022 trafen sich Vertreter des Alijew-Regimes erstmals mit der Verwaltung von Berg-Karabach, um vor Ort den gesunkenen Pegel in Augenschein zu nehmen. Eine solche Besichtigung könnte in zwei gegensätzliche Richtungen führen: zur Zusammenarbeit im Sinne der Lösung eines gemeinsamen Problems oder zu weiteren militärischen Angriffen, um den Stausee unter alleinige, d.h. aserbaidschanische Kontrolle zu bringen.
Unregelmäßiges Gas, fehlender Strom und demnächst auch krasser Wassermangel sind aber bloß ein Teil der gegenwärtigen Probleme der 120.000 Einwohner Arzachs, darunter 30.000 Kinder. Seit dem 12. Dezember 2022, also seit vier Monaten, befindet sich Arzach ununterbrochen unter Blockade, weil angebliche aserbaidschanische Umweltschützer die einzige Landverbindung zwischen der Republik Armenien und Arzach sperren und die russischen „Friedenstruppen“ diese Sperrung hinnehmen. Mit Ausnahme von 194 Schwerstkranken, die das Internationale Rote Kreuz in den ersten einhundert Tagen der Blockade von Arzach in die Republik Armenien befördern durfte, können Arzacher Armenier ihre Heimat weder verlassen, nach betreten.

Leere Apotheke in Stepanakert
Lebensmittel und Medikamente sind längst knapp. Letzteres betrifft vor allem chronisch Kranke, darunter 4.697 Zuckerkranke sowie 8.540 Kreislaufkranke, die besonders dringend auf regelmäßige Medikamenteneinnahme angewiesen sind. Fehlende Kindernahrung führt zur Unterernährung vor allem Neugeborener.
Der wirtschaftliche Schaden soll sich nach Expertenmeinung auf 1,9 Millionen USD täglich (!) belaufen. Vor der Blockade wurden 90 Prozent der in Arzach benötigten Lebensmittel importiert. Infolge der Blockade mussten die staatlichen Arzacher Reserven angebrochen werden, denn nur in geringem Umfang konnten das Internationale Rote Kreuz und die russländischen Friedenstruppen Arzach den Lebensmittelmangel in Arzach ausgleichen.
Schon im August 2022 warnten das Lemkin Institute sowie die International Association of Genocide Scholars, dass den „indigenen Armeniern im Südkaukasus“ eine „erhebliche Genozidgefahr“ drohe (vgl. https://gfbv-voices.org/erhebliche-genozidgefahr-fuer-die-armenierinnen-im-suedkaukasus/). Diese Gefahr hat sich durch die Blockade, die das korrupte Alijew-Regime ungehindert fortsetzt, dramatisch erhöht. Daran ändern bisher weder eine Anordnung des Internationalen Gerichtshofs (International Court of Justice) etwas, der Aserbaidschan mit Beschluss vom 22. Februar 2023 zur Beendigung der Blockade aufrief (https://www.icj-cij.org/case/180), noch eine Stellungnahme des Europäischen Parlaments.
Der internationalen Öffentlichkeit fehlt es offenkundig am Interesse, seine Schutzverantwortung (responsibility to protect) gegenüber Arzach wahrzunehmen. Wieder einmal sehen die Welt und „der Westen“ Armeniern tatenlos beim Leiden zu. Und so geht das Kalkül genozidaler Zyniker auf, denn ihre Opfer werden am Ende entweder zur Flucht getrieben oder sterben. Ein menschenwürdiges Leben unter Einhaltung der individuellen und kollektiven Menschenrechte sieht das Alijew-Regime für Armenier in Arzach nicht vor.
Literaturempfehlung: Bericht des Menschenrechtsbeauftragten der Republik Arzach https://artsakhombuds.am/en/document/1004

Eine durch die Blockade von ihren Kindern getrennte Mutter weint.
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