Arzach

Der Untergang einer De Facto-Republik

Tessa Hofmann

Gestern Morgen, am 28. September, erreichte mich die Nachricht, dass die Regierung der Republik Arzach ihre Selbstauflösung mit Wirkung zum 1. Januar 2024 beschlossen habe. Da befand sich über die Hälfte der Bevölkerung Arzachs bereits auf dem Fluchtweg nach Armenien bzw. in endlosen Pkw-Konvois auf dem berühmt-berüchtigten Latschinkorridor, der nun den Vertriebenen und Flüchtlingen offensteht. Mit Stand vom 29. September, 9:27 Uhr, hatten 84.470 Menschen von einer offiziell mit 120.000 bezifferten Gesamtbevölkerung die Republik Armenien erreicht.

Unbekannt ist, wie viele an der aserbaidschanischen Grenzkontrolle festgenommen wurden. Denn Aserbaidschan hatte immer wieder verkündet, es werde alle armenischen Männer im Alter zwischen 20 und 80 kontrollieren, ob sie auf der Liste von „Verbrechern“ stünden, die Aserbaidschan als Terroristen bzw. Kriegsverbrecher (in den beiden völkerrechtswidrigen Angriffskriegen Aserbaidschans auf Arzach 1994 und 2020) betrachtet. Das prominenteste Opfer ist der an der Grenze verhaftete Milliardär und Mäzen Ruben Wardanjan, der als armenischer und russländischer Bürger in Arzach lebte und zeitweilig dort Staatsminister war. Seine jüdische Ehefrau Veronika Sonnabend teilte die Festnahme über „Telegram“ mit; die Republik Armenien schaltete inzwischen den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ein.

Die willkürlichen Festnahmen sind ein Instrument, um die Bevölkerung Arzachs selbst bei der Flucht zu terrorisieren. Nach einer genozidalen Hungerblockade von neun Monaten, gefolgt vom einem Militärangriff am 19. September, bei dem Aserbaidschan gezielt zivile Objekte und Wohnviertel Angriff, nach Massakern an der Zivilbevölkerung steht anscheinend ein Elitizid an, eine gezielte Vernichtung der politischen und intellektuellen Führung der kleinen demokratischen Minirepublik. Diese Republik stand in internationalen Rankings zur Demokratie oft besser als die Republik Armenien da. Eine Generation konnte dort in Freiheit aufwachsen, ohne die Vorherrschaft der hasserfüllten Aserbaidschaner. Diese stilisieren sich in öffentlichen Stellungnahmen und in ihren Medien immer wieder als Märtyrer und Opfer eines angeblichen armenischen Genozids – ein klassischer Fall von Tatsachenverdrehung und victim blaming. 

In Armenien sehen die Zwangsvertriebenen einer ungewissen Zukunft entgegen. Regierungschef Paschinjan, der mit seiner Prager Erklärung zur Souveränität Aserbaidschans die Republik Arzach faktisch fallengelassen hat, erklärte, sein Land könne 40.000 Flüchtlinge aufnehmen. Es sind bereits jetzt mehr als doppelt so viele eingetroffen, und weitere werden kommen. Offensichtlich versuchen die republik-armenischen Behörden, diese überwiegend in der gefährdeten Provinz Sjunik anzusiedeln, wohin die geflüchteten Arzacher ungern gehen: Je weiter weg von Aserbaidschan, um so lieber wäre es ihnen. 

Denn auf Sjunik, aber auch andere Teile der Republik Armenien erhebt Aserbaidschan immer wieder Anspruch. Im staatlichen Wetterdienst, aber auch in den Verlautbarungen staatlicher Medien ist nicht mehr von Armenien, sondern von „Westaserbaidschan“ die Rede. Der Landhunger Aserbaidschans ist noch nicht gestillt. Es droht den Geflüchteten die Gefahr, erneut vertrieben und traumatisiert zu werden.

Und doch schauen die Weltöffentlichkeit, der „kollektive Westen“ ebenso wie Armeniens vermeintliche Schutzmacht Russland seit 2020, seit drei Jahren untätig zu, wie sich die erkennbare Katastrophe immer mehr verdichtete. Dass bloße Appelle und nicht einmal Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs Aserbaidschan beeindrucken bzw. sein Verhalten ändern, wusste man längst. Doch keine internationale Beobachtermission, keine Luftbrücke für die verhungernden Arzacher, keine Sanktionen gegen den korrupten, autoritären Alijew-Klan erfolgten. Das verstärkt bei vielen Armenien den bitteren Eindruck, dass die Welt erneut ihrer Vernichtung zusieht: Es interessiert einfach niemand.

Ob die nach Armenien geflüchteten Arzacher dortbleiben können, ob sie weiter flüchten – nach Russland? – bleibt abzuwarten. Aber spätestens jetzt muss gehandelt werden, um die Sicherheit des letzten verbliebenen armenischen Siedlungsgebiet zu retten. Seine Fläche entspricht der des Bundeslandes Brandenburg.

 

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