Abessinien / Äthiopien – Experimentierfeld der Gewalt

Aram Mattioli

Von Wolfgang Mayr

Äthiopien versinkt in einer ständigen wachsenden Gewalt, wie schon zwischen 1935 und 1941. Das faschistische Italien überzog damals das Reich von Kaiser Haile Selassie mit einem völkermordartigen Krieg, schreibt der Schweizer Historiker Aram Mattioli.

Historiker Mattioli deutet in seinem Buch „Abessinien – Experimentierfeld der Gewalt“ den faschistischen Eroberungskrieg als Blaupause für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten an. Auf dem abessinischen Experimentierfeld wurde ausprobiert, was in späteren Kriegen des 20. Jahrhunderts mit noch größerer Perfektion praktiziert wurde.

Äthiopien ist derzeit wieder Schlachtfeld, es herrscht Krieg zwischen der Zentralregierung des Friedensnobelpreisträgers Abiy Ahmed und der Provinz Tigray und den Oromo-Verbündeten. Adis Abeba gab den Startschuss für diesen äußerst gewalttätig geführten Krieg. Gemeinsam mit den eritreischen Verbündeten verübte die äthiopische Armee Kriegsverbrechen in Tigray, Massenvergewaltigungen, Massenerschießen, Vertreibungen.

Die Tigray verbündeten sich mit der Oromo Liberation Army, vertrieben Soldaten aus Eritrea und der Zentralregierung und stehen laut eigenen Angaben vor der Hauptstadt Adis Abeba. Präsident Ahmed ließ angebliche Spione verhaften und geht gegen mutmaßliche Regierungsgegner in der Hauptstadt vor.

„Der Krieg ist vor allem aus der Region Tigray heraus eskaliert und wird nun zu einem nationalen Anliegen. Dies geschieht, nachdem die Bundesregierung den Ausnahmezustand erlassen hat“, sagt William Davison vom International Crisis Group. Ohne bedeutende und gewichtige Zugeständnisse an Tigray von Seiten der Zentralregierung wird es kein Ende der Kämpfe geben, warnt Davison. An diesem Krieg könnte also der Zentralstaat zerbrechen.

Eine Rückkehr wird allein schon deshalb schwierig werden, weil ausufernde Gewalt in Tigray und die nicht weniger gewalttätige „Gegenreaktion“ tiefe Wunden geschlagen haben.

Aufgedrängte Gewalt

Die Geschichte Äthiopiens ist voller Gewalt, besonders brutal war der Eroberungskrieg des faschistischen Italiens zwischen 1935 und 1941. Mehr als 300.000 italienischen Soldaten waren im „Einsatz“. Insgesamt starben zwischen 330.000 bis 760.000 Abessinier, die Verluste der Italiener betrugen 30.000 Tote. Damit zählt der Abessinienkrieg nach dem Algerienkrieg der Franzosen und dem Völkermord an den Herero des deutschen Kaiserreiches zu den blutigsten militärischen Kolonial-Konflikten, die jemals in Afrika dokumentiert wurden.

Für den Historiker Mattioli war der Abessinien- kein Kolonial- sondern wegen der „Entgrenzung der Gewalt“ ein Vernichtungskrieg. Dem faschistischen Italien diente der italienische Kolonialkrieg in Libyen gewissermaßen als Vorbild: Einrichtung von Lagern, der Einsatz von Stacheldraht zum Absperren der Front, Waffen- und Nahrungsmittelblockaden, die Umsiedlung der Bevölkerung und die Zerstörung von fruchtbarem Land und Nutztier.

In seiner Forschung machte Mattioli im Abessinienkrieg eine neue Art der Kriegsführung aus. „Noch nie zuvor kamen so große Mengen an qualitativen Waffen und technischen Gerät zum Einsatz. Geleitet von der Doktrin des schnellen und umfassenden Sieges gingen die italienischen Truppen mit äußerster Brutalität vor“, verweist Mattioli auf den hochtechnisiert durchgeführten Krieg.

„Insgesamt setzte das italienische Militär von Dezember 1935 bis Februar 1936, 128 C500T-Bomben ein und setzte 344 Tonnen Chemie frei. Angesichts dessen muss von einem total geführten Gaskrieg gesprochen werden,“   die These von Giulia Brogini Künzi in ihrem Buch „Italien und der Abessinienkrieg 1935/36 – Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?“ Laut Brogini überlegten die italienischen Faschisten auch den Einsatz bakteriologische Waffen. Im Gespräch waren Krankheitserreger die Cholera, Typhus oder Ruhr auslösen sollten. Letztendlich wurde aber auf bakteriologische Kampfstoffe verzichtet.

Zeitalter der Gewalt

In Abessinien zeigte das faschistische Italien sein widerwärtiges Gesicht. Hier hinterließ es eine Blutspur als Massentötungsregime; hier bereitete es einem neuen Zeitalter der Gewalt den Weg. Wer diese Erkenntnis nicht ernst nimmt, wird in Zukunft nicht mehr überzeugend behaupten können, die Abgründe des ´Katastrophenzeitalters´ auch nur annähernd erfasst zu haben,“ findet Carl Wilhelm Macke in seiner Sendung „Abgründe des Katastrophenzeitalters“ im Deutschlandfunk.

Macke würdigt die Forschung von Aram Mattioli, „weil hier nicht Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts gegeneinander aufgerechnet und damit relativiert werden.“ Mattioli erforschte ein einziges, in der Historie erst spät zur Kenntnis genommenes „Mega-Verbrechen“ und „öffnet gleichzeitig den Blickwinkel auf ein ganzes Zeitalter, in dem Prozesse der Zivilisierung immer auch begleitet wurden von Rückfällen in Massenterror und Gewaltexzesse.“

Italiani brava gente

In Italien galt und gilt der „Abessinien-Krieg“ immer noch als ein Tabu, um den Mythos von den „braven Italienern“ nicht zu zerstören. Eine Aussage des italienischen Historikers Angelo Del Boca, der wegen seiner Forschungstätigkeit heftig angegriffen und mit Strafanzeigen überzogen wurde. Eine der brutalsten Militärexpeditionen eines europäischen Staates zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg galt auch bei kritischen italienischen Journalisten als ein misslungenes „afrikanisches Abenteuer“, wie Duce Mussolini seinen Vernichtungskrieg verharmlost hatte.

Der inzwischen verstorbene Historiker Del Boca stieß die lange unterbundene Erforschung – weil Archive dafür versperrt waren – des faschistischen Eroberungskrieges an. Der italienische Staat und seine Justiz gingen recht vehement gegen jene vor, die diese mörderische Vergangenheit „bewältigen“ wollten. In den 1980er Jahren zeigten Anarchisten in Trento (Nachbarprovinz von Südtirol) den libyschen Propagandafilm „il leone del deserto“ über den antiitalienischen Widerstandskämpfer Omar Mukhtar. Der Film war im demokratischen Italien verboten, die Anarchisten kamen wegen „Schmähung der Nation“ (vilipendio) vor Gericht.

Stichwort „italiani brava gente“. Ein großer Teil der Bevölkerung begrüßte den Eroberungskrieg in Abessinien, auch die katholische Kirche gab ihren Segen dazu. „Dass die Gräueltaten der faschistischen Militärs noch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Italien tabuisiert wurden, zeigt, wie groß der Unterstützungskonsens innerhalb der italienischen Gesellschaft bis weit hinein in die katholische Kirche gewesen ist,“ kommentiert Carl Wilhelm Macke im Deutschlandfunk.

0-Töne einiger faschistischer Würdenträger: „Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren eventuelle Verteidiger,“ sagte Mussolini 1935 vor Soldaten.

Mussolinis Befehl an seinen Oberbefehlshaber Emilio de Bono lautete: Hauptsache ist, schnell machen und kräftig draufhauen.

Abessinien-Marschall Rodolfo Graziani ergänzte: „In Brand stecken und zerstören, was brennbar und zerstörbar ist. Alles säubern, was säuberbar ist.

Graziani forderte die italienischen Soldaten in Abessinien auf, Bauernland systematisch abzubrennen und Gasbomben gezielt einzusetzen: „Sehr gut. Weiter so, erbarmungslos vom Erdboden ausradieren.

Angelo Del Boca – Vater der italienischen Vergangenheitsbewältigung

Der Schweizer Mattioli profitierte von der vielfältigen Forschung von Del Boca und seiner Mitstreiter. Aufarbeitung der Vergangenheit auf höchstem Niveau. Nach seinen tiefschürfenden Recherchen befand Mattioli, der Abessinienkrieg war ein Experimentierfeld der enthemmten, der entgrenzten Gewalt. Modell für die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Osteuropa, die Vertreibungen im großen Stil am Ende des Zweiten Weltkrieges, die ethnischen Ausrottungen auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens. All das hatte laut Mattioli der Abessinienkrieg der italienischen Faschisten im Kern enthalten.

Das schreckte Gianfranco Fini, einst Chef der rechtsradikalen Alleanza Nazionale, Nachfolgepartei des neofaschistischen MSI, nicht davon ab, die angeblichen historischen Leistungen des „Duce“, des Führers Mussolini zu würdigen. Fini war in der Rechtsregierung von Silvio Berlusconi immerhin Außenminister.

Carl Wilhelm Macke schlussfolgerte in der Sendung „Abgründe des Katastrophenzeitalters“ im Deutschlandfunk: „Italien hat sich spät auf den Weg gemacht, um ein angemessenes Verhältnis zu seiner Tätervergangenheit zu finden. Überzeugend gelungen ist dies dem Land bis heute nicht. Der Prozess der Entmythologisierung der faschistischen Vergangenheit hat in der italienischen Öffentlichkeit erst begonnen.

Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935 – 1941, Orell Füssli Verlag, Zürich 2006, 239 Seiten

Mattioli_Aram.pdf (eu-ro-ni.ch)

type=rezbuecher&id=17896&view=pdf (hu-berlin.de)

Der Abessinienkrieg: Kolonial- oder Vernichtungskrieg? – GRIN

Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935-1936 (ifz-muenchen.de)

ITALIEN, ÄTHIOPIEN UND DAS LANGE SCHWEIGEN – Cluverius

Omar Mukhtar – Il Leone del Deserto – Film (1980) – MYmovies.it

Il leone del deserto (1981)Film italiano completo-HD – YouTube

 

 

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