21-11-2021
Nordirland: Amnesty International bangt um das Karfreitag-Abkommen
Von Jan Diedrichsen
Amnesty International hat an die Verhandlungsführer des Vereinigten Königreichs und der EU geschrieben, um die im Irland/Nordirland-Protokoll zugesicherten Garantien zu gewährleisten. Der Druck in der Region wächst – vereinzelte Gewaltausbrüche inklusive.
VOICES berichtete:
Der Europarat schreibt London: Keine Amnestie für Verbrechen im Nordirlandkonflikt
Die Menschenrechte in Nordirland dürften nicht zum Opfer eines Handelskrieges werden – so Patrick Corrigan von der Menschenrechtsorganisation.
Amnesty International hat die Verhandlungsführer Lord Frost und Maroš Šefčovič, schriftlich aufgefordert, die im Irland/Nordirland-Protokoll garantierten Bestimmungen für die Menschen in Nordirland zu wahren.
Die Spannungen in Nordirland steigen. In der Nähe einer loyalistischen Siedlung am Rande von Belfast wurde ein Bus entführt und in Brand gesetzt.
Vier maskierte Männer bestiegen den Doppeldecker. Der Fahrer und die Fahrgäste wurden aus dem Bus gewiesen, der dann angezündet wurde. Diese aus den „Troubles“ wohlbekannte Machtdemonstration bzw. Provokation war nicht die erste ihrer Art in diesem Jahr. Insgesamt vier Busse wurden bereits mit dieser Methode angezündet.
VOICES empfiehlt:
The Troubles in Bildern
Der Nordirlandkonflikt („Troubles“) forderte mehr als 3.600 Menschenleben und weitere 40.000 wurden verletzt. In den meisten Fällen wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen.
In den letzten zehn Jahren ist es mit einem Flickenteppich an Maßnahmen, darunter auch vereinzelte Untersuchungen, nicht gelungen, die Gewalt der Vergangenheit aufzuarbeiten, und viele Opfer warten noch heute auf Gerechtigkeit.
Im Rahmen des Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich hat sich die britische Regierung verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die im Karfreitag-Abkommen von Belfast verankerten Garantien für die Menschen in Nordirland auch nach dem Brexit geschützt bleiben.
Patrick Corrigan, Nordirland-Programmdirektor von Amnesty International UK, erklärt:
„Die Verpflichtung zum Schutz von Rechten und Gleichberechtigung war ein zentraler Bestandteil des Belfaster Abkommens und des Karfreitagsabkommens, das wiederum für den dauerhaften Frieden in Nordirland von entscheidender Bedeutung bleibt. Das Protokoll garantiert diese Rechte für alle Menschen in Nordirland.“
Loyalist paramilitaries march against Sunningdale, 1974 (c) https://www.theirishstory.com
Nordirland – „The Troubles“
Der Begriff „Troubles“ (Unruhen) bezeichnet den etwa 30 Jahre dauernden Konflikt in Nordirland, von den späten 1960er Jahren bis zum Karfreitagsabkommen im Jahr 1998.
Die Ursprünge der Unruhen lassen sich jedoch Jahrhunderte zurückverfolgen. Bereits im 17. Jahrhundert bildeten sich in Irland zwei Gruppen mit unterschiedlichen politischen und religiösen Auffassungen heraus.
Die Katholiken betrachten sich überwiegend als Iren – sie strebten ein unabhängiges Irland, frei von britischer Kontrolle an. Die Protestanten sahen sich überwiegend als Briten und Unionisten, die mit dem Vereinigten Königreich verbunden bleiben wollten.
DER OSTERAUFSTAND
Während des Ersten Weltkriegs, am 24. April 1916, besetzten irische Republikaner zentrale Plätze in Dublin und riefen die irische Republik aus, was als Osteraufstand in die Geschichte eingehen sollte. Innerhalb einer Woche war der Aufstand nach teilweise schweren Kämpfen niedergeschlagen. Mehr als 2.000 Menschen, darunter auch Zivilisten, wurden getötet oder verwundet.
Die britische Reaktion auf den Aufstand, zu der auch die Hinrichtung von 15 Anführern und die Verhängung des Kriegsrechts gehörten, förderte die Unterstützung für die republikanische Unabhängigkeitsbestrebungen in Irland.
DIE TEILUNG IRLANDS
1919 begann die Irisch-Republikanische Armee (IRA) einen Guerillakrieg gegen die britische Armee und mit ihr verbundenen loyalistische Kräfte. Nach mehr als zwei Jahren des Krieges wurde im Mai 1921 der „Government of Ireland Act“ verabschiedet, welcher Irland in zwei Teile teilte. Im Juli folgte ein Waffenstillstand. Mit dem Gesetz wurden sechs Grafschaften zur selbstverwalteten Region Nordirland zusammengelegt, deren Bevölkerung mehrheitlich loyalistisch und protestantisch war.
Mit dem anglo-irischen Vertrag vom Dezember 1921 wurde der irische Unabhängigkeitskrieg formell beendet. Der Vertrag sah die Gründung eines irischen Freistaats in Südirland vor. Der irische Freistaat sollte als Herrschaftsgebiet innerhalb des britischen Empire bestehen, was sich jedoch 1949 änderte, als Irland offiziell zur unabhängigen Republik wurde und Nordirland unter britischer Verwaltung und Militärkontrolle verblieb.
DIE ANKUNFT DER BRITISCHEN ARMEE
Die katholische Minderheit in Nordirland sah sich wirtschaftlich und politisch gegenüber der protestantischen Gemeinschaft stark benachteiligt.
Die Spannungen entluden sich im August 1969 während des jährlichen Marsches der „Apprentice Boys of Derry“. Die Route des Marsches führte durch das überwiegend katholische Bogside-Viertel von Derry. Der Versuch der Royal Ulster Constabulary (RUC), die Anwohner von den Marschierenden zu trennen, führte zu massiven, mehrtägigen Ausschreitungen. Das Ereignis wurde als „Battle of Bogside“ bekannt und löste in ganz Nordirland Unruhen aus.
Im Laufe der 1960er und frühen 1970er Jahre stieg die Zahl der Mitglieder paramilitärischer Organisationen. Eine Gruppe spaltete sich von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) ab und gründete die Provisional IRA. Loyalistische paramilitärische Organisationen wie die Ulster Defence Association (UDA) und die Ulster Volunteer Force (UVF) wuchsen ebenfalls zahlenmäßig.
Da es immer häufiger zu gewalttätigen Angriffen und Bombenanschlägen kam, errichtete die britische Armee „Friedensmauern“, um beide Gemeinschaften voneinander zu trennen.
BLUTIGER SONNTAG
Am 31. Januar 1972 versammelten sich etwa 15.000 Menschen in Derry, um an einem Marsch gegen die Politik der „Internierung ohne Spuren“ (Menschen verschwanden und kehrten nie zurück) in Nordirland teilzunehmen. Das 1. Bataillon des Fallschirmjägerregiments wurde eingesetzt, um den Marsch an der Durchführung seiner Route zu hindern. Die Soldaten rückten vor, um Verhaftungen vorzunehmen und eröffneten dabei das Feuer auf die Demonstranten. Vierzehn Menschen wurden getötet.
Die zweite Hälfte der 1970er und die 1980er Jahre waren durch Attentate und Terrorakte gekennzeichnet, die von loyalistischen und republikanischen paramilitärischen Gruppen verübt wurden.
Die Aktionen der Loyalisten konzentrierten sich weitgehend auf Irland. Die Ulster Volunteer Force und die Ulster Defence Association verübten Anschläge auf katholische Zivilisten und bombardierten Bars und Pubs in Belfast. Bei den Bombenanschlägen in Dublin und Monaghan im Mai 1974, bei denen zwei Autobomben in Dublin und eine in Monaghan gezündet wurden, kamen 33 Zivilisten ums Leben. Die UVF bekannte sich erst 1993 zu dieser Tat bekannt.
Die Provisional IRA verübte die meisten ihrer Anschläge in Nordirland. Im Jahr 1972 wurden bei einer Reihe von Bombenanschlägen in Belfast 9 Menschen getötet. Die Anschläge wurden als Reaktion auf den Bloody Sunday verübt und wurden als Bloody Friday bekannt. Auch in England verübte die Provisional IRA mehrere Anschläge. Bei den Bombenanschlägen auf Pubs in Birmingham im Jahr 1974 kamen 21 Zivilisten ums Leben. Zu den Anschlagszielen gehörten Londoner Kaufhäuser sowie öffentliche Gebäude wie das Old Bailey (1973) und die Houses of Parliament (1974). 1982 wurden 11 Soldaten und 7 Pferde getötet, als im Hyde Park während der Wachablösung und im Regents Park Bomben gezündet wurden. 1984 richtete sich eine Bombe im Grand Hotel in Brighton gegen den Parteitag der Konservativen und tötete fünf Menschen. Eines der bekanntesten Opfer der IRA-Anschläge war Lord Louis Mountbatten, ein Cousin der Königin. Im August 1979 wurde Mountbatten in der irischen Grafschaft Sligo getötet, als eine Bombe auf sein Fischerboot gelegt wurde.
FRIEDENSGESPRÄCHE UND WAFFENSTILLSTÄNDE
Trotz der anhaltenden Gewalt kam es Anfang der 1990er Jahre zu Verhandlungen zwischen den politischen Parteien in Nordirland und zwischen der britischen und der irischen Regierung. Die Downing Street Declaration von 1993 wurde von Premierminister John Major und Taoiseach Albert Reynolds unterzeichnet. In der Erklärung wurden die wichtigsten Grundsätze festgelegt, darunter, dass eine Vereinigung Irlands nur mit der Zustimmung der Mehrheit der nordirischen Bevölkerung erfolgen könne und dass nur Nordirland und die Republik Irland das Recht hätten, ihre Streitigkeiten zu lösen. Die Erklärung wurde von der republikanischen Partei Sinn Fein, dem politischen Flügel der provisorischen IRA, gebilligt.
Bis 1997 hatten sowohl die provisorische IRA als auch die loyalistischen Paramilitärs einen Waffenstillstand ausgerufen.
Das Karfreitagsabkommen wurde am 10. April 1998 unterzeichnet. Es war das Ergebnis von Gesprächen zwischen unionistischen Parteien, den politischen Flügeln der UVF und der UDA, Sinn Fien und der britischen Regierung. Das Abkommen sah einen Plan für eine Nordirische Versammlung mit geteilter Macht vor und skizzierte Pläne für die künftigen Beziehungen zwischen Irland und Großbritannien. Im darauffolgenden Monat wurde es durch ein Referendum in Nordirland und Irland angenommen. Im Juni fanden Wahlen statt, und die Regierung übernahm offiziell im Dezember 1999 die Macht.
Das Karfreitagsabkommen kann als das Ende der Unruhen angesehen werden.
Quellen:
The Northern Ireland Conflict 1968-1998 – An Overview
Bitannica – Northern Ireland conflict
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