19-10-2021
Plurinationales Chile?
Von Wolfgang Mayr
VertreterInnen der Ureinwohner schreiben an einer neuen Verfassung mit. Gleichzeitig schickt der Staatspräsident Militär in das Mapuche-Land. Die traditionelle Spielart des inner-chilenischen Kolonialismus.
Die Nachfahren der spanischen Eroberer halten eisern an ihrem Erbe fest. Sie agieren wie ihre Vorfahren, die Konquistadoren. Am 12. Oktober, am Kolumbus-Tag, verhängte die chilenische Regierung den Ausnahmezustand in drei Provinzen des Wallmapu, des Mapuche-Landes. Für zwei Wochen sind die Militärs die uneingeschränkten Herrscher in dieser unruhigen Region.
Mit der Entsendung der Armee reagierte die Regierung auf Proteste und Demonstrationen von Mapuche, die die Sicherheit und die Rechtsstaatlichkeit des Staates gefährdeten, hieß es aus Santiago. Mapuche-AktivistInnen fordern vom Staat gestohlenes Land zurück.
Rechte Parlamentarier und der Unternehmerverband Multigremial beklatschten den Aufmarsch der Armee. Dem vorausgegangen waren Straßenblockaden von Lastwagenunternehmen. Sie beklagten Angriffe auf ihre LKW und drängten auf ein hartes Durchgreifen des Staates.
Am Tag der Verhängungen des Ausnahmezustandes verübte die Mapuche-Organisation Coordinadora Arauco Malleco einen Brandanschlag auf ein Forstunternehmen. Angeblich bewaffnete Mapuche kündigten über das Onlineportal Noticias Widerstand gegen die Militär-Besatzung an.
Die Mapuche kritisieren die langjährige Tendenz zur Militarisierung des Konflikts im Wallmapu. Offensichtlich ist die Regierung nicht bereit, gestohlenes oder enteigneten Land an die Mapuche zurückzugeben. Genausowenig scheint sie am Dialog interessiert zu sein.
Die Bereitschaftspolizei ging am Tag des Widerstandes gegen die koloniale Unterdrückung gewalttätig gegen indigene Demonstranten vor. Dabei wurde die Menschenrechtsaktivistin Denisse Cortes getötet. Die sogenannten Sicherheitskräfte provozieren bei den Kundgebungen immer ein Klima der Gewalt, so die Kritik, um dafür umso härter dagegen vorgehen zu können.
Rechte, Polizei und Militär heizen die Stimmung an, am 21. November finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Laut Umfragen wird es der linke Kandidat Gabriel Boric in die Stichwahl schaffen, ein Horror für die chilenische Rechte. Diese lehnt strikt die Forderungen von Mapuche-Organisationen ab, gestohlenes Land den Mapuche-Gemeinden zurückzugeben, ihre Sprache amtlich anzuerkennen, Chile, die spanische Kolonie, umzubauen in einen multinationalen Staat. Mapuche-AktivistInnen drängen auf eine neue Verfassung, auf einen neuen Staat, auf die restlose Verabschiedung aus der kolonialen Vergangenheit.
Mit einem Referendum im Oktober 2020 wurde ein Verfassungskonvent eingesetzt, im Juli 2021 wählten die Konventsmitglieder die Mapuche-Vertreterin Elisa Loncón Antileo zu ihrer Präsidentin. “Ich grüße alle Brüder und Schwestern, alle Menschen im Norden Chiles oder in Patagonien, vom Ozean bis zu den Anden und auch auf den Inseln”, zitiert amerika21 die 58-jährige Linguistin und Aktivistin nach der ersten Sitzung dieses Gremiums, das innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung schreiben soll. Ein weiterer Alptraum für die chilenische Rechte. Im Vorfeld des Konvents sorgten vier gewählte VertreterInnen der Quechua, Aymara, Diaguita und Kawésqar, Isabella Mamani und Wilfredo Bacian, Ivanna Olivares und Margarita Vargas für öffentliches Interesse für ihre Forderungen. Autonomie für die indigenen Völker mit eigener Wirtschaft. Sie wollen im Konvent ihre Nationen und ihre Territorien vertreten.
Schwerpunkt Plurinationalität
Die chilenische Verfassung betont den zentralistischen Charakter des Nationalstaates, indigene Völker werden nicht erwähnt. Hier wollen sie ansetzen. Sie drängen darauf, den plurinationalen Charakter des Staates und die Existenz mehrerer Nationen in der Verfassung festzuschreiben. Das Ziel steht für die vier VertreterInnen fest: „Plurinationalität hat mit der Umverteilung von politischer Macht zu tun. Hier geht es um die rechtlich garantierte Rückgabe von Gebieten, von Gewässern und um die Anerkennung indigener Institutionen inder staatlichen Struktur.“
Und weiter: „Echte Plurinationalität beinhaltet die Rückgabe der indigenen Territorien durch den Staat, die exakte Abgrenzung der Gebiete und ihre dauerhafte Kontrolle durch die indigenen Gemeinschaften, das Recht auf politische Selbstbestimmung, auf politische Souveränität innerhalb der Territorien, die Achtung des Gewohnheitsrechts unserer Vorfahren, der traditionellen Autoritäten und unserer innenpolitischen Strukturen sowie das Recht zu entscheiden, welche wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb unserer Gemeinschaften stattfinden dürfen.“
Dazu eine weitere Präzisierung: „Das Konzept des plurinationalen Staats und die Selbstbestimmung aller First Nations soll in jeder Hinsicht spürbar sein: rechtlich, politisch, sozial, kulturell… Wir wollen eine Stimme, und wir wollen, dass sie auch gehört wird.“ Das bedeutet: „Wir möchten, dass künftig von einem plurinationalen Staat die Rede ist, der unsere Muttersprache anerkennt, und dass entsprechende Gesetze erlassen werden, die die politische Förderung einer umfassenden indigenen Entwicklung ermöglichen“.
Ein neues Entwicklungsmodell
Zur Diskussion steht auch ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell, das Mensch, Umwelt und Natur versöhnt. „Der Erhalt des Lebens und das Gleichgewicht des Ökosystems müssen Vorrang vor sämtlichen Entwicklungsmodellen haben, denn nur so können wir die Koexistenz und das Überleben der künftigen Generationen auf dem chilenischen plurinationalen Territorium sicherstellen“, erklärten die indigenen KonventsvertreterInnen: „So müssen wir zum Beispiel darauf achten, dass die Nutzung unserer Gewässer auch den Schutz der Flussläufe, des Grundwassers und der Gletscher, ob Schnee oder Fels, einbezieht.“ Und: „Wir wollen selbst entscheiden, wie wir unsere Umwelt schützen. Das derzeitige Wirtschaftsmodell steht im Widerspruch zu unserer Kosmovision, zu unserer Beziehung zu den Elementen. Wir müssen ein Modell entwickeln, das die Umwelt schützt, ein Modell, das weder unserer Mutter Erde noch dem Wasser schadet. Die Pachamama muss zum Rechtssubjekt erhoben werden.“
Aufarbeitung der Kolonialverbrechen
Laut den indigenen Konventsmitgliedern „muss der chilenische Staat aufgrund der historischen Schuld gegenüber der indigenen Bevölkerung Schadenersatz leisten. Hier geht es nicht nur um die unrechtmäßige Vereinnahmung von Land und Wasser, sondern auch um den Verlust von Menschenleben.“
Dezentralisierung: „Die indigenen Gebiete müssen ihre Entscheidungsgewalt und Souveränität wiedererlangen. Dazu gilt es, die übermäßige Zentralisierung dieses hyper-präsidentiell strukturierten Staats schrittweise abzubauen“, fordern indigene Organisationen: „Das Prinzip der Dezentralisierung solle auch auf die Regionen angewendet werden. Für die Entwicklung der abgelegeneren Gemeinden wäre eine erweiterte Unabhängigkeit sicher auch förderlich. So können alle teilhaben an der Entwicklung und ihre Erfahrung und traditionelles kulturelles Wissen beisteuern.“
Politische Teilhabe: Die Demokratie muss um- und ausgebaut werden, es müssen „neue partizipative Mechanismen der politischen Teilhabe etabliert werden, die Raum für Stellungnahmen und Beratung lassen. Wir wollen, dass die Bürger*innen und die Territorien ihre Macht zurückbekommen“.
Kinder und Jugendliche: Besonders „La Lista del Pueblo“ wirbt für die Festschreibung der Rechte von Kindern und Jugendlichen. „Kinder sind der Schatz dieser Gesellschaft, wir müssen ihren Schutz gewährleisten und uns für ihre Autonomie und Möglichkeiten zur Partizipation einsetzen und ihre Ideen und Träume ernst nehmen.“
Gesellschaftliche Entwicklung der indigenen Gemeinden: Grundlegend soll der Ley Indígena, das „Indigenengesetzes“, reformiert werden. Das Gesetz definiert die Kawésqares nicht als indigenes Volk, sondern nur als Gemeinschaft. Außerdem soll die zweisprachige interkulturelle Erziehung zum Standard werden, die Förderung der Entwicklung der Lebensrealität der Indigenen angepasst werden. „Das Indigenengesetz spricht im Zusammenhang mit dem Volk der Mapuche immer nur vom Land als Element der Entwicklung. Das Meer als zentrales Entwicklungselement der Völker Patagoniens bleibt hingegen unerwähnt.“
Plurinationalität ist Kernforderung für indigene Abgeordnete
Quellen: amerika21, nachrichtenpool lateinamerika
Mapuche Memorandum, November 2013 fertig.pdf (gfbv.de)
Die Mapuche in Chile – Kampf um Land und Rechte | Journal Reporter – Bing video
Bei den Mapuche in Chile – Bing video
Chile: Mapuche-Indianer demonstrieren für mehr Rechte – Bing video
La Lista del Pueblo | ¡Somos lo que siempre luchan!
Coordinadora Arauco Malleco: Recovering pre-colonial autonomy in Wallmapu | Intercontinental Cry
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