04-07-2021
100 JAHRE AUTONOMIE – DIE ÅLAND-INSELN ZWISCHEN FINNLAND UND SCHWEDEN FEIERN EIN JAHRHUNDERT TERRITORIALE SELBSTVERWALTUNG

Von Thomas Benedikter
Am 24. Juni 1921 beschloss der Völkerbund in Genf eine Sonderlösung für die schwedisch besiedelten Åland Inseln, die zu Finnland gehören. Ende 1917 hatten sich zwar fast alle Åländer für die Vereinigung mit Schweden ausgesprochen, doch der Völkerbund beließ es bei der finnischen Souveränität über Åland. Die schwedische Sprache und Kultur sollten geschützt bleiben, die Bewohner sich selbst regieren und der ganze Archipel neutralen und demilitarisierten Status erhalten. Drei Tage später hießen Finnland und Schweden diesen Kompromiss offiziell gut. Am 9. Juni 1922 trat der frei gewählte Landtag (Lagting) erstmals zusammen. Deshalb feiert Åland vom Juni 2021 bis zum 9. Juni 2022 „Hundert Jahre Autonomie“.
Ålands Autonomie gehört heute zu den umfassendsten aller heute bestehenden rund 60 Territorialautonomien. Auf Åland ist nur Schwedisch Amtssprache, das Bildungssystem einsprachig, die Staatssprache ein Wahlfach. Schon daran wird erkennbar, dass Åland einen Sonderfall unter den autonomen Regionen bildet, die ansonsten meist mehrsprachig sind. Die Inseln sind komplett demilitarisiert, Polizei, Post Rundfunk-TV sind Landessache. Åland hat nicht nur einen eigenen Sitz im Nordischen Rat auf Augenhöhe mit den skandinavischen Staaten, sondern mit dem hembygdsrätt (Heimatrecht) auch eine Art Regionalbürgerschaft. 1951 und 1991 ist die Åland -Autonomie weiterentwickelt worden, und eine weitere Reform steht derzeit an. Doch heute schon genießt Åland Rechte von der andere autonome Regionen nur träumen können.
Was ist überhaupt Territorialautonomie?
Territorialautonomie ist eine Form der Organisation staatlicher Machtverteilung zur Regelung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und einer oder wenigen besonderen Teilgebieten. Beim Staatsaufbau spricht man heute vom Mehrebenensystem, vor allem in Bezug auf die EU mit ihren vier Ebenen der Gesetzgebung und Verwaltung. Doch in den meisten der Erde gibt es kein Mehrebenensystem, im besten Fall nur zwei: den Zentralstaat und eine substaatliche Ebene der Kreise oder Kommunen. Mit Ausnahme der weltweit 24 Staaten, die eine bundesstaatliche Verfassung haben, gibt es die Zwischenebenen der Regionen mit Gesetzgebungshoheit nur in Ausnahmefällen. Auch Territorialautonomie als Ausnahmeregelung ist nur selten zur Anwendung gelangt, nämlich in etwa 70 Fällen in 25 Ländern, wobei einige frühere Autonomiesysteme heute nicht mehr bestehen. Das bestimmende Staatsmodell ist immer noch der Einheitsstaat, und im Jahr 2020 nur in 110 Fällen mit einem demokratischen System (Freedomhouse, 2021). Trotz der guten Ergebnisse von Dezentralisierung, Subsidiarität und Regionalisierung bleibt die Bereitschaft der Zentralstaaten, Entscheidungsmacht an die Peripherie abzugeben, recht gering.
Der ursprüngliche Sinn und Zweck von Autonomie: Minderheitenschutz
Der Schutz von sprachlichen und ethnischen Minderheiten liegt weltweit noch im Argen. Indigene Völker sind nicht nur in ihrer Kultur und Lebensweise, sondern oft in ihrer Existenz bedroht, wenn ihnen mit der Verfügung über Land und natürliche Ressourcen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wird. Sprachminderheiten in Industrieländern fehlt oft der rechtliche Rahmen, um umfassenden Schutz und Weiterentwicklung zu gewährleisten. Dass allein Sprachenrechte und ein individuelles Diskriminierungsverbot den nötigen Schutz der Minderheitensprachen nicht bieten können, ist erwiesen. Erst kollektive Schutzmechanismen auf dem angestammten Siedlungsgebiet bieten den Rahmen für volle Gleichberechtigung mit den dominanten Sprachen bzw. der Staatssprache. Diesen Rahmen bildet z.B. ein eigener Gliedstaat eines Bundesstaats, aber auch eine Territorialautonomie, in welcher mehrere Sprachen als gleichberechtigte Amtssprachen anerkannt werden. Autonomie wird auch deshalb als Königsweg des Minderheitenschutzes angesehen, weil die Multiplizierung von Staaten nicht die Lösung sein kann, der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden. Es gibt weltweit zwischen 3.000 und 5.000 lebendige Sprachen. Um allein der Mehrheitsbevölkerung von Regionen mit solchen Sprachen kulturelle Eigenständigkeit zu verschaffen, müssten zu den bestehenden 195 Staaten mindestens 525 weitere Staaten geschaffen werden (Stephen Ryan, 1997, 2). Territorialautonomie ohne Sezession ist eine gangbare Alternative, allerdings nur dann, wenn sie so ausgestaltet ist, dass Kultur, Sprache, Lebensweise, Identität und wirtschaftliche Lebensgrundlagen der betroffenen Minderheit oder des kleineren Volks auf Dauer geschützt sind.
Der Nebeneffekt: mehr Demokratie und Selbstregierung
Autonomie bringt die politische Macht näher zu den Bürgern und Bürgerinnen. Damit wird ein Raum für regionale Demokratie begründet, in welcher Bürgerbeteiligung und Kontrolle von unten weit besser funktionieren als in Einheitsstaaten ohne Regionen oder Bundesländer mit Gesetzgebungshoheit. Autonomie verschafft besonderen Regionen mehr politische Eigenständigkeit und erlaubt die Selbstregierung der Bevölkerung einer Region, die dennoch rechtlich und politisch in den Staatsverband integriert bleibt. Ohne Demokratie kann man von keiner echter „Eigengesetzgebung“ (autos, nomos) sprechen. Doch wo mehrere ethnisch-sprachliche Gruppen zusammenleben – und das ist in der Mehrheit der heute autonomen Regionen der Fall – muss gemeinsam regiert werden: Konkordanzdemokratie ist das aus der Schweiz stammende Schlagwort, das dort nicht so sehr aus ethnischen, sondern aus urdemokratischen Gründen seit der Staatsgründung 1848 angewandt wird. Das sorgt für den nötigen demokratischen Ausgleich und verhindert, dass Territorialautonomie zu einem ethnisch exklusiven Raum wird, also zum ethnischen Reservat.
Autonomie hat sich weltweit bewährt
In den meisten der seit 1921 geschaffenen autonomen Regionen hat sich diese besondere Form der Machtteilung zwischen einer Region und dem Zentralstaat bewährt. Nur wenige dieser Regionen streben heute die Loslösung vom Zugehörigkeitsstaat an, weil Autonomie in einem Prozess nationaler Emanzipation nicht mehr reicht wie Katalonien, Schottland und Irakisch-Kurdistan. Wenn auch nicht ohne Konflikte so hat sich Autonomie als Instrument der Konfliktlösung und des Minderheitenschutzes bewährt. Doch Autonomie muss auch neuen Anforderungen angepasst werden, wie in Südtirol, wo der Reformbedarf schon seit Jahren klar auf dem Tisch liegt.
Territorialautonomie wird in seinem Potenzial, offene innerstaatliche Konflikte zu lösen und Minderheiten zu schützen immer noch stark unterschätzt. Weltweit haben sich erst 19 Staaten durchgerungen, einen solchen Sonderstatus zuzulassen. Drei Viertel der Staaten kennen überhaupt keine Dezentralisierung. Die dominierende Form ist immer noch der Einheitsstaat. Auf dem Hintergrund zentralistischer Staatsdoktrinen der meisten Staaten steht Autonomie unter dem Generalverdacht, der erste Schritt zur Sezession zu sein. Das ist geschichtlich widerlegt.
Heute kämpfen zahlreiche Minderheiten oder ganze Regionalgemeinschaften um ein Mindestmaß an Territorialautonomie, wie etwa Korsika mit seiner seit 2015 klar autonomistischen Mehrheit, und das vor allem von Ungarn besiedelten Szeklerland in Rumänien. Doch weder in Paris noch in Bukarest will man von Autonomie etwas wissen. Für gewaltsam ausgetragene Konflikte wie in Ambazonien (Kamerun), Pattani (Thailand), Westpapua (Indonesien) und Rojava (Syrien) wäre Territorialautonomie die optimale Lösung.
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